# taz.de -- Flucht aus Syrien: Plötzlich hatten alle Maschinenpistolen | |
> Murhaf Fanous wurde von der syrischen Armee angeschossen und floh nach | |
> Schweden. Dann holte er seine Familie nach. Ruhig schlafen kann er nicht. | |
Bild: Murhaf Fanous' Familie ist jetzt in Sicherheit. Doch viele ihrer Verwandt… | |
HOLMSUND taz | Die Sonne scheint durchs Wohnzimmerfenster. Die zweijährige | |
Marsil ist vom Mittagsschlaf aufgewacht und hüpft aufs Sofa zu Papa. Murhaf | |
Fanous, ein kräftiger Mann mit ergrauendem Bart und blauen Augen, stellt | |
das Glas mit dem starken, süßen Tee ab und küsst seine Tochter auf den | |
Scheitel. Ein friedliches Bild an einem friedlichen Nachmittag im | |
nördlichen Schweden. | |
Seit fast einem Jahr lebt Familie Fanous in Holmsund, wo jeder jeden kennt | |
und die Omis auf dem Marktplatz den Trinkern vor dem Supermarkt beim | |
Trinken zuschauen. „Ein guter Ort“, sagt Murhaf Fanous. „Es ist ruhig hier | |
und die Menschen haben ein gutes Herz.“ | |
Der Fernseher im Wohnzimmer läuft tonlos. Al-Dschasira zeigt Bilder von | |
Panzern. „Wenn ich aufstehe, schalte ich ihn als Erstes ein“, sagt Fanous. | |
Erst wenn er ins Bett gehe, schalte er ihn aus. Nachts kommen die | |
Albträume: „Ich träume immer von Syrien, ich sehe mich dort im Krieg“, | |
erzählt Murhaf Fanous. Er hat sich Schlafmittel verschreiben lassen. | |
„Erste Protestdemo in Syrien“ meldet dpa am 15. März 2011 | |
Bis 2011 lebten Murhaf Fanous und seine Frau Tagred Garabli ein | |
unaufgeregtes Leben in der syrischen Hafenstadt Latakia. Er hatte als | |
Musiker gut verdient und eine Poolbillardhalle eröffnet, Tagred arbeitete | |
als Kindergärtnerin. Guevara, ihre älteste Tochter, war sieben Jahre alt, | |
die zweite Tochter Marsil gerade geboren, als der arabische Frühling über | |
sie hereinbrach. | |
Latakia, die Heimatprovinz der Familie des syrischen Präsidenten Baschar | |
al-Assad, wurde ein Zentrum des Widerstands. „Im angrenzenden Viertel | |
lebten sehr viele arme Menschen. Zuerst ging es um Freiheit. Doch plötzlich | |
hatten sie alle Maschinenpistolen und teure Handys. Sie kontrollierten | |
unser Viertel“, berichtet Fanous. | |
## „Ach was, eigentlich sind das Fanatiker“ | |
Die Bewaffneten suchten nach Anhängern Assads. Er halte ihn für einen | |
Diktator und habe nie mit ihm sympathisiert, sagt Fanous, und das sagte er | |
auch den … Er sucht das Wort. Tagred setzt sich zu ihrem Mann auf’s Sofa. | |
„Revolutionären.“ | |
„Ja, genau.“ Er rollt das Wort im Mund. „Ach was, eigentlich sind das | |
Fanatiker“, meint er. „Wenn die an die Macht kommen, haben wir wieder eine | |
Diktatur. Wir sind …, wie sagt man?“ | |
„Zwischen den Fronten.“ | |
„Genau.“ | |
Die Revolutionäre gaben ihm ein Gewehr, und nun gehörte Fanous zum | |
Widerstand. „Meine Frau fragte mich, ob ich verrückt geworden sei. Was | |
willst du mit dem Gewehr, schrie sie mich an. Mach dir keine Sorgen, sagte | |
ich, wenn die Armee kommt, feuere ich das ganze Magazin in die Luft und | |
habe dann für den Rest des Monats meine Ruhe.“ Pro Person waren 30 Schuss | |
Munition ausgegeben. | |
„Syrische Truppen rücken in Latakia ein“, meldet dpa am 13. August 2011 | |
Fanous erzählt, wie er morgens durch die Stadt schlich. Er wollte seine | |
Frau anrufen, die mit Guevara und dem Baby zu Hause war, aber er hatte | |
keinen Empfang. „Und dann standen plötzlich syrische Soldaten vor mir.“ Er | |
floh. Sie schossen. Eine Kugel streifte den Hals, eine zweite traf den Po | |
und trat durch die Leiste wieder aus. „Hier“, er schiebt den Hosenbund | |
unter das vernarbte Gewebe. | |
Ein Nachbar versteckte ihn und verband die Wunden. Dieser wurde später | |
beschuldigt, ein Anhänger Assads zu sein. Fanous hackt auf seinem Laptop | |
rum. „Das ist mein Nachbar“, sagt er. Ein Youtube Video zeigt einen Mann | |
auf einer Liege, sein linkes Auge ist zugeschwollen, Arme und Beine sind | |
mit Handschellen gefesselt. Er spricht langsam. „Ich werde die Regierung | |
nicht mehr unterstützen“, übersetzt Fanous und scrollt rasch zum Ende des | |
Videos: ein Kopf in einem Pappkarton. „Sie haben seinen Kopf an seine | |
Mutter geschickt und in die Nase einen Zettel gesteckt mit den Namen derer, | |
die sie als nächstes töten“, berichtet Tagred. | |
## „Was sind das für Menschen.“ | |
Sie schüttelt sich. „Was sind das für Menschen. Sie sagen, sie sind | |
Muslime. Aber wir sind auch Muslime. Nirgendwo im Koran steht, dass man | |
Menschen den Kopf abschneiden soll.“ | |
Vom Tod des Nachbarn hat sie ihrem Mann am Telefon erzählt. Murhaf war | |
schon geflüchtet. Die türkische Grenze ist nur 60 Kilometer von Latakia | |
entfernt. Murhaf schlug sich zu Fuß durch und erreichte am 20. August ein | |
Flüchtlingslager. Er blieb dort vier Monate, aber die Familie durfte nicht | |
nachkommen. | |
„Wir hatten als Palästinenser keine syrischen Papiere“, erklärt er. Also | |
weiter. Er bezahlte einen Schlepper, reiste nach Griechenland und von dort | |
aus nach Deutschland. Frankfurt erreichte er am 1. Januar 2012 und blieb | |
ganze drei Tage. „Ich würde gern in Deutschland arbeiten“, meint er. | |
„Deutschland ist ein starkes Land, das spürst du, wenn du durch die Straßen | |
gehst. Aber wieso tut Deutschland nichts?“ Er erfuhr, dass es extrem | |
schwierig werde, die Familie nach Deutschland nachzuholen. | |
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schreibt, ein Familiennachzug | |
sei unter folgenden Voraussetzungen möglich: | |
– Familienangehöriger ist im Besitz eines Aufenthaltstitels, | |
– verfügt über ausreichend Wohnraum, | |
– der Lebensunterhalt ist gesichert. | |
Fanous flog weiter nach Schweden. Sofort nach seiner Ankunft ging er zur | |
schwedischen Migrationsbehörde und beantragte eine Aufenthaltsgenehmigung | |
für sich und die Erlaubnis, seine Familie nachkommen zu lassen. Doch man | |
sagte ihm, er müsse sich gedulden, man warte die Entwicklung in Syrien ab. | |
Reuters meldet am 5. Juni 2012: „Heftige Kämpfe in syrischer Küstenprovinz | |
Latakia | |
Seine Frau schlief mit den Kindern in der Küche auf dem Boden. Im Bett war | |
es zu gefährlich, denn die Kugeln durchschlagen auch Wände. Sie trauten | |
sich nicht, aus dem Haus zu gehen. „Ein Nachbar wurde erschossen, als er | |
auf seinem Balkon stand, berichtet Tagred. Wenn er mit ihr telefonierte, | |
hörte Murhaf im Hintergrund die Salven. | |
## Im Hungerstreik | |
Manchmal fiel der Strom tagelang aus. Tagred schickte Fotos per Skype: | |
Guevara auf einem Sofa sitzend. Sie lächelt, nun mit Zahnlücken. „Ich habe | |
vor diesem Foto gesessen und geheult“, erzählt Murhaf. Er saß 5.000 | |
Kilometer nördlich. Er trat in den Hungerstreik. Die Medien wurden | |
aufmerksam. | |
„Murhaf im Hungerstreik für seine Familie“ titelt der „Västerbottens | |
Kuriren“ am 14. Juni 2012. | |
Am 8. August 2012 erhält er die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Nun | |
durfte auch die Familie ausreisen. Da die schwedische Botschaft in Damaskus | |
geschlossen ist, reiste Tagred nach Beirut und sprach dort in der | |
schwedischen Vertretung vor. Nach drei Anläufen erhielt sie Pass und Visum | |
und flog mit den Kindern von Beirut über Katar nach Schweden. | |
Am 24. Oktober 2012 landen sie in Stockholm. Im Gepäck hat sie auch Murhafs | |
Bassgitarre. Er spiele manchmal darauf, aber nur für sich, erzählt er. Er | |
würde gern wieder eine Band gründen, doch noch hat er in Västerbotten keine | |
Musikerfreunde gefunden. | |
Er springt auf und stellt einen Blumentopf auf den Tisch. „Hier, das mache | |
ich jetzt. Ich züchte Blumen.“ Sie besuchen auch Schwedischkurse und Murhaf | |
schaut sich nach einem Job um. Die Möbel hat er auf Kredit gekauft. Er | |
wirft sich wieder auf das Sofa. „Ich lebe hier, aber mein Kopf ist in | |
Syrien.“ Die Eltern leben noch dort und die Brüder und Schwestern. Sie | |
haben alle kleine Kinder. Tagred erklärt, dass ihre Familien in Syrien | |
bleiben. „Was sollen sie sonst machen, wir können hier ja auch nichts für | |
sie tun.“ | |
## 9.000 Euro pro Person | |
Die schwedische Botschaft in Damaskus schreibt auf ihrer Webseite: „Die | |
Entscheidung der schwedischen Migrationsbehörde wurde oft falsch | |
interpretiert, dahingehend, dass Schweden nun offen sei für alle Syrer. Das | |
ist nicht der Fall!“ Asyl gibt es nur für jene, die es aus eigener Kraft | |
nach Schweden schaffen. Doch die Reise ist teuer – 9.000 Euro wollen die | |
Schlepper pro Person –, und sie ist gefährlich. | |
„Kampf gegen Waldbrände in Griechenland“ meldet dpa am 6. August 2013 | |
Auf seiner Facebook-Seite hat Murhaf ein Foto gepostet und bittet um | |
Hinweise. „Das ist die Familie meines Freundes“, sagt er. Es könnten auch | |
die Fanous’ sein. Ein Mann mit einem Baby im Arm, neben ihm seine Frau und | |
zwischen ihnen ein Kind mit blauem T-Shirt und dünnen Armen. „Sie sind bis | |
nach Griechenland gekommen, dort verirrten sie sich“, sagt Murhaf. „Mein | |
Freund wollte Hilfe holen, doch als er mit der Polizei zurückkam, brannte | |
der Wald. Seitdem sucht er sie. | |
An diesem Tag haben sie erfahren, dass man die Überreste der Frau und der | |
Kinder gefunden hat. Ein anderer Freund ertrank am Tag zuvor auf der | |
Überfahrt durchs Mittelmeer. Vor drei Tagen wurde Murhafs Cousin in Syrien | |
erschossen. „Er war weder Assad-Anhänger noch Revolutionär, er war erst 17 | |
Jahre alt, ruft Murhaf. | |
Wie man das erträgt? Tagred schaut unbewegt auf. „Jeden Tag stirbt jemand, | |
den du kennst. Manchmal fühle ich gar nichts mehr.“ Wollen Sie irgendwann | |
wieder nach Syrien zurückkehren? Murhaf nickt. „Ich auf jeden Fall. Ich | |
habe 37 Jahre dort gewohnt. Aber wenn du meine Frau fragst …“ | |
Er blickt zu Tagred. Die streicht sich über den Bauch und lächelt. Im | |
Januar wird ihr drittes Kind geboren. Guevara geht in Holmsund zur Schule, | |
Marsil in den Kindergarten. „Es ist schön hier in Schweden“, sagt sie, „… | |
friedlich.“ | |
17 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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