# taz.de -- Bruder eines Lampedusa-Opfers über Flucht: „Nein, geh nicht!“ | |
> 2011 kam der Ghanaer Johnson Takyi auf Lampedusa an, heute lebt er in | |
> Berlin. Obwohl er seinem Bruder abriet, wollte der ihm folgen – und | |
> ertrank. | |
Bild: Johnson Takyi im Camp auf dem Berliner Oranienplatz | |
Ein kleines Zelt auf dem Kreuzberger Oranienplatz, darin zwei Betten. Auf | |
einem sitzt Johnson Takyi, er trägt eine graue Strickjacke, seine Füße | |
ruhen nur in Socken auf einem kleinen Teppich, die Schuhe stehen vorm Zelt. | |
Ein kleiner Fernseher läuft, tonlos. Seit sechs Monaten ist der 43-jährige | |
Ghanaer Teil des seit einem Jahr währenden Flüchtlingsprotestcamps in | |
Kreuzberg, mitten in Berlin. | |
Am Wochenende hat Takyi erfahren, dass sein jüngerer, 32-jähriger Bruder | |
Matin unter den mehr als 300 Toten des vor Lampedusa gesunkenen | |
Flüchtlingsschiffs war. Takyi erzählt davon langsam und gedämpft, er knetet | |
ein Kissen auf seinem Schoss. Seine Augen füllen sich immer wieder mit | |
Tränen. Takyis Englisch ist schlecht, Zeltmitbewohner Abdullah und eine | |
deutsche Helferin übersetzen. | |
Herr Takyi, wie haben Sie von dem Unglück in Lampedusa erfahren? | |
Johnson Takyi: Ich habe es auf Al-Dschasira gesehen, auf meinem Fernseher | |
hier. Die Nachricht tat mir sehr weh. Ich habe sofort daran gedacht, wie | |
ich selbst vor zwei Jahren nach Lampedusa geflohen bin. | |
Wussten Sie, dass Ihr Bruder auf dem verunglückten Boot war? | |
Nein. Ich wusste, dass mein Bruder in Libyen ist. Er hat dort anderthalb | |
Jahre als Bauarbeiter gearbeitet, um seine Frau und die zwei Kinder in | |
Ghana zu ernähren. Wir hatten noch vor zwei Wochen telefoniert. Schon zuvor | |
hatte er mir gesagt, dass er nach Europa will. Ich habe ihm immer wieder | |
geantwortet: Nein, geh nicht! Europa ist nicht das Paradies, wie alle | |
denken. Menschen wie wir bekommen keine Jobs, müssen auf der Straße | |
schlafen. Das ist kein Leben, wir leiden. In Libyen gibt es wenigstens | |
Arbeit, der Dinar ist gut. Es ist besser als in Europa. | |
Ihr Bruder ist dennoch gegangen und ertrunken. | |
Am Samstag hat mich mein Vater aus Berekum angerufen und gesagt: Dein | |
Bruder ist tot, er ist auf einem Schiff nach Europa ertrunken. Ich habe | |
gesagt, von wem sprichst du? Er sagte, dein Bruder Matin. Aber ich wollte | |
es nicht glauben. Ich hatte doch gesagt, er soll nicht gehen! Ich glaube, | |
deshalb hat er mir nichts von der Fahrt erzählt. | |
Was haben Sie nach der Nachricht Ihres Vaters gemacht? | |
Ich war geschockt. Dann bin ich in die Kirche gefahren und habe zu Gott | |
gebetet, dass er Matin zu sich nimmt. | |
Wie hatte Ihr Vater von dem Tod erfahren? | |
Auf dem Boot waren andere Ghanaer, die Matin kannten. Sie haben ihn | |
identifiziert, in seinen Sachen wurden auch Papiere gefunden. Matin gehörte | |
zu den Toten, die gefunden wurden. Ich verstehe nicht, warum das Boot jetzt | |
im Oktober noch gefahren ist! Normalerweise gehen sie im April, Mai, Juni, | |
wenn das Wetter ruhiger ist, nicht mehr jetzt. | |
Wissen Sie, wo Ihr verstorbener Bruder nun begraben wird? | |
Meine Familie wird eine Gedenkfeier in Berekum machen, aber sein Körper | |
wird wohl in Italien begraben. | |
Sie selbst sind vor zwei Jahren auf einem Schiff von Libyen nach Lampedusa | |
geflohen. Warum? | |
Ich bin schon vor sechs Jahren von Ghana nach Libyen gegangen, um dort zu | |
arbeiten. Ich bin Zimmermann. Aber 2011 kam der Krieg gegen Gaddafi. Wir | |
fremden Arbeiter sind da zwischen die Fronten geraten. Die Rebellen | |
dachten, wir sind Söldner von Gaddafi. Ich wurde von Soldaten angeschossen, | |
am Bein. Auf wessen Seite sie kämpften, weiß ich nicht. Ich kam ins | |
Krankenhaus und in einer Nacht wurde ich plötzlich von Soldaten abgeholt | |
und auf ein Boot gebracht. | |
Sie wussten nicht, wohin es geht? | |
Nein. Es war mitten in der Nacht, zwischen 3 und 4 Uhr. | |
Mussten Sie etwas für die Überfahrt bezahlen? | |
Nein. Ich wurde ja gezwungen mitzufahren, ich wollte ja gar nicht nach | |
Europa, schon wegen meines Beins nicht. | |
Ihr Schiff schaffte es nach Lampedusa. | |
Es war ein kleines Boot, aber es war nicht so überfüllt wie normal. Wenn in | |
Libyen Flüchtlinge auf ein Boot gehen, verdoppeln die Schiffsleute die | |
Zahl: Ist das Boot für 150 Passagiere, holen sie 300 Leute an Bord. Auf | |
meinem Boot waren wir 104 Menschen, die italienischen Behörden hatten | |
nachgezählt. | |
Können Sie schwimmen? | |
Nein. Soweit ich weiß, konnte mein Bruder auch nicht schwimmen. | |
Wie ist es damals für Sie weitergegangen in Italien? | |
Ich wurde nach Fondi gebracht, eine Stadt in Mittelitalien, und bin dort | |
wegen meines Beins ins Krankenhaus gekommen. Später habe ich ein | |
Aufenthaltspapier bekommen, aus humanitären Gründen, gültig für ein Jahr | |
und acht Monate. | |
Warum sind Sie nach Deutschland gekommen? | |
Ich hatte zwar das Papier, aber es gab nirgends Arbeit. Die Italiener haben | |
mir 500 Euro gegeben und gesagt, ich könne woanders hingehen. Ich hatte | |
gehört, dass es in Deutschland besser ist, also bin ich nach Berlin | |
gefahren. | |
Seit sechs Monaten sind Sie Teil des Flüchtlingsprotestcamps in Kreuzberg. | |
Wie kam das? | |
Ich bin anfangs durch Berlin gelaufen und wusste gar nicht, wohin ich gehen | |
soll. Dann habe ich Schwarze getroffen, die mir von dem Camp erzählt haben, | |
und bin hierher. | |
Was ist nun Ihre Forderung, Ihr Wunsch? | |
Ich will eine Arbeit finden, Geld verdienen, mehr nicht. Ich habe von Mai | |
bis August für eine Umzugsfirma in Berlin gearbeitet. Immer hieß es, das | |
Geld kommt morgen. Aber ich habe bis heute kein Geld bekommen. | |
Nach Ghana wollen Sie nicht zurück? | |
Nein. Ich brauche erst Geld. Ich habe meine Familie in Ghana, noch vier | |
Brüder und zwei Schwestern. Sie brauchen Unterstützung. | |
Wissen Sie, ob Ihre Geschwister nach Europa wollen? | |
Ich kann nur beten, dass sie es nicht tun. | |
8 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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