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# taz.de -- Flüchtlingsunglück vor Lampedusa: Wer kein Geld hat, kann nicht f…
> Mehr Entwicklungshilfe wird die Migration nach Europa nicht stoppen. Denn
> es sind nicht die Ärmsten der Welt, die flüchten, sondern die untere
> Mittelschicht.
Bild: Auf der Suche nach einer besseren Zukunft: Flüchtling in Lampedusa.
Die Taucher suchten im Schiffsrumpf vor der italienischen Insel Lampedusa
noch nach den Leichen der ertrunkenen Flüchtlinge, als Bundesinnenminister
Hans-Peter Friedrich (CSU) bereits eine Lösung für das Drama wusste: mehr
Entwicklungshilfe. Die wirtschaftliche Lage in den Herkunftsländern müsse
so verbessert werden, dass „die Menschen schon keinen Grund haben, ihre
Heimat zu verlassen“.
Auch andere Politiker verschiedener Fraktionen und der scheidende
Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) brachten die Bedeutung
wirtschaftlichen Fortschritts ins Spiel, um zu verhindern, dass das
Mittelmeer vor Europas Küste zum Massengrab wird. Klingt ebenso human wie
logisch, denn Deutschland gibt ohnehin weniger als die angestrebten 0,7
Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.
Tatsächlich aber stammt die Mehrheit der Bootsflüchtlinge aus Ländern, mit
denen gar keine Entwicklungszusammenarbeit möglich ist. „Die Forderung nach
mehr Entwicklungshilfe ist eine Nebelkerze“, sagt Günter Burkhardt,
Geschäftsführer von Pro Asyl. „Da wird Stimmung gemacht und suggeriert,
dass die Flüchtlinge aus wirtschaftlichen Gründen kommen.“
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex gibt an, dass die 31.000 Menschen, die
allein in diesem Jahr über die zentrale Mittelmeerroute gekommen sind,
größtenteils aus Eritrea, Somalia und Syrien stammen. Wobei die Syrer
bereits in das in Chaos versinkende Ägypten geflohen sind und sich von dort
über das Mittelmeer wagen. Somalia und Syrien kommen mangels staatlicher
Strukturen und Bürgerkrieg nicht für Entwicklungshilfe infrage. Eritrea ist
eine Diktatur, die ebenfalls nicht geeignet ist für wirtschaftliche
Zusammenarbeit.
## Die Ärmsten können gar nicht wandern
Doch selbst dort, wo Entwicklungshilfe möglich ist, ist der Ansatz wenig
erfolgversprechend. Nach Krieg und Gewalt führen eben gerade nicht Hunger
und Elend zur Migration nach Europa. Im Jahr 2012 kamen große Gruppen aus
Tunesien, Algerien und Nigeria auf Lampedusa an – Länder, die nicht zu den
ärmsten zählen. „Die ärmsten Menschen der Welt können gar nicht wandern,
sie haben weder die Mittel noch die Kraft, auch nur 50 Kilometer weit zu
kommen“, sagt Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für
Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn. „Es ist vor allem die untere
Mittelschicht, die emigriert. Ihre Motivation ist eine ganz andere als bei
den Ärmsten. Sie wollen ihr Glück woanders suchen, suchen für sich und ihre
Kinder eine bessere Zukunft.“
Wirtschaftliche Entwicklung wird deshalb sogar dazu führen, dass der
Migrationsdruck in die EU zu- und nicht abnimmt. Es lasse sich nicht
belegen, dass Entwicklungszusammenarbeit die Zuwanderung verringere,
schreibt die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung (OECD) 2007 in
einer Studie. „In vielen Fällen hat steigendes Einkommen die Auswanderung
noch beflügelt“, heißt es dort.
Zum einen können sich Auswanderungswillige erst dann die Preise der
Schlepper leisten, wenn ein gewisses Niveau an Pro-Kopf-Einkommen erreicht
ist. Auch dann, wenn sich eine ganze Großfamilie zusammentut. Zum anderen
bringt wirtschaftliche Entwicklung trotz guter Wachstumsraten viele
negative Effekte mit sich. „Steigender Wohlstand und Demokratisierung
bedeuten oft zunächst Umbruch, große Instabilität und enorme soziale
Ungleichheit. All das erhöht den Migrationsdruck“, sagt Messner.
Bei einem Pro-Kopf-Einkommen unter 1.500 US-Dollar pro Jahr ist die
Auswanderungsrate – es sei denn, es besteht ein Konflikt – sehr gering.
Zwischen 1.500 und 8.000 US-Dollar pro Jahr ist sie dagegen am höchsten,
schreibt der Schweizer Thinktank „Forum Außenpolitik“ in einer Studie.
Danach nehme die Auswanderung wieder ab. Entsprechend ist der
Migrationsdruck in sehr armen Ländern wie Jemen geringer als in
vergleichsweise wohlhabenden wie Tunesien. „Die Idee, es seien vor allem
die ,Hungrigen und Verzweifelten’, die auf der Suche nach Arbeit
emigrieren, ist weitverbreitet, aber falsch“, so die Studie.
## Kein Kriterium der Entwicklungshilfe
Gleichzeitig wird davor gewarnt, die Eindämmung der Migration zum Kriterium
der Entwicklungshilfe zu machen. In der Schweiz spielt bei der Festlegung
der Länder eine Rolle, ob die dortigen Behörden bereit sind, bei der
Eindämmung der Migration zu kooperieren. Eine solche Politik würde dazu
führen, dass nicht mehr die ärmsten Regionen im Fokus stehen, sondern die,
aus denen die meisten Migranten stammen.
Für die ehemalige Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
(SPD ) steht deshalb vor allem eine neue europäische Flüchtlingspolitik als
Konsequenz aus der Tragödie von Lampedusa im Vordergrund. „Es ist eine
Schande, dass in den letzten Jahren Tausende von Menschen im Mittelmeer, im
militärisch bestüberwachten Meer, unter den Augen der europäischen
Öffentlichkeit umgekommen sind.“
11 Oct 2013
## AUTOREN
Silke Mertins
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