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# taz.de -- 92 Menschen in der Sahara verdurstet: Tod in der Wüste
> Aus einer Armutsregion im Niger, dem ärmsten Land der Welt, waren sie
> aufgebrochen. Doch die Männer, Frauen und Kinder kamen nie ans Ziel.
Bild: In Niger sind die Zeiten schlecht in diesem Jahr. Wer kann, flieht vor de…
BERLIN taz | Manche Leichen waren schon von Schakalen angefressen, andere
teilverwest. Verstreut waren die insgesamt 92 Toten in der Wüste von Niger
über einen Raum von 20 Kilometern, berichteten die Bergungsmannschaften.
Hier, nahe der Grenze zu Nigeria, waren am Montag fünf gefunden worden, am
Mittwoch weitere 87. Es ist das größte bislang bekannt gewordene Drama der
afrikanischen Migration in der Sahara.
„Die meisten fanden wir in kleinen Gruppen“, sagte Almoustapha Alhacen von
der lokalen Hilfsorganisation Aghir In’Man (Menschlicher Schutzschild), die
die Leichen barg. „Viele lagen unter Bäumen, andere in der prallen Sonne.
Manchmal eine Mutter und ihrer Kinder. Manchmal die Kinder allein.“ Es
waren 52 Kinder, zumeist Mädchen; dazu 33 Frauen, nur 7 Männer.
Niger ist das ärmste Land der Welt und hat die weltweit höchste
Bevölkerungswachstumsrate und die weltweit größten Uranreserven,
strategisch für Frankreich sehr wichtig. Zwischen den instabilen Nachbarn
Libyen, Mali und Nigeria gelegen, ist es ein Wunder, dass es nicht schon
längst selbst ein Kriegsherd ist. Das ist zum großen Teil das Verdienst des
demokratisch gewählten nigrischen Präsidenten Mahamadou Issoufou. Er hat
mit der Tuareg-Minderheit zum Frieden gefunden und beteiligte sich Anfang
des Jahres aktiv an Frankreichs Militärfeldzug gegen Islamisten in Mali.
Aus der Uranstadt Arlit fuhren am 15. Oktober zwei Lastwagen los,
hochbeladen mit 113 Menschen unterwegs nach Tamanrasset in Algerien. Es ist
eine Strecke von 630 Kilometern; das größere algerische Stück davon ist
geteert, ein normales Auto schafft das an einem Tag. Die beiden Lastwagen,
auf denen die Nigrer nach Angaben von Überlebenden „zusammengepfercht wie
Vieh“ hockten, schafften nicht einmal die 220 Kilometer bis zur Grenze.
Zehn Kilometer vorher hatte ein Lastwagen eine Panne; angeblich hatten sie
die Straße verlassen, um den drakonischen algerischen Kontrollen zu
entgehen. Der andere fuhr zurück, um Ersatzteile zu besorgen, und kam nicht
zurück. Einige Männer machten sich auf den Weg, um Hilfe zu holen –
offenbar sehr spät, und sie waren lange unterwegs. Zurückgekehrt zu ihren
Familien, fanden sie fast nur noch Tote – verdurstet und verstreut in
sengender Wüstenhitze.
## Grenzgängerland
Nigrischen Medien zufolge kamen die Lastwagenpassagiere alle aus dem
Landkreis Matameye, im Distrikt Zinder im äußersten Süden Nigers direkt an
der Grenze zu Nigeria. Diese relativ dicht besiedelte Region ist
Grenzgängerland. Getreide- und Viehhändler aus Niger und Nigeria betreiben
regen Austausch, aus Nigeria kommen auch Konsumgüter. Wenn die Zeiten
schlecht sind, weil Dürre oder eine Heuschreckenplage die Ernten schädigt,
zieht man aus Matameye traditionell nach Süden, in nigerianisches Gebiet.
Dieses Jahr sind die Zeiten schlecht. Im Distrikt Zinder mit drei Millionen
Einwohnern sind nach UN-Angaben dieses Jahr 362 Kinder verhungert, fast
80.000 Fälle schwerster Unterernährung wurden registriert. Matameye ist
davon weniger betroffen, aber das ist alles relativ. In Niger insgesamt
sind dieses Jahr nach UN-Angaben 13,3 Prozent der Gesamtbevölkerung schwer
unterernährt – ein Anteil von 10 Prozent gilt international bei
Hilfsorganisationen als Notsituation, der unmittelbare Nothilfe erzwingt
und eigentlich nur in Bürgerkriegsgebieten oder Zentren von Hungersnot
angetroffen wird.
Der Migrationsausweg nach Nigeria ist dieses Jahr aber versperrt. Der an
den Süden Nigers angrenzende Teil Nigerias ist Kriegsgebiet, wo die
islamistische Miliz Boko Haram immer wieder Zivilisten massakriert und
Sondereinheiten des Militärs vermeintliche Islamisten verfolgt. Es fliehen
nicht mehr Nigrer nach Nigeria, sondern Nigerianer nach Niger. Um den
Export von Gewalt zu vermeiden, verschärfen Niger und Nigeria gerade ihre
Überwachung der gemeinsamen Grenze.
So bleibt nur der Weg nach Norden. Den Reisenden aus Matameye ging es
vermutlich nicht darum, nach Europa zu gelangen. Dafür fährt man nach
Libyen mit seinen Mittelmeerrouten – ein Weg, der über Nigers größte
Wüstenstadt Agadez führt und jeden Monat von rund 5.000 Nigrern gewählt
wird. Schwieriger und unbeliebter, wenn auch kürzer ist die Reise aus Niger
ins abgeschottete Algerien, die diese Gruppe vornahm.
Tamanrasset, die 100.000 Einwohner zählende größte Stadt im Süden
Algeriens, ist ein kosmopolitischer Knotenpunkt des Sahara-Handels, wo sich
auch Reisende aus zahlreichen afrikanischen Ländern aufhalten. Es ist der
Mittelpunkt der panafrikanischen Autobahn von Lagos nach Algier, ein
Großprojekt der afrikanischen Einigung.
## Abschottung in der Wüste
Aber seit dem französischen Mali-Krieg überwacht Algeriens Armee die
Südgrenze noch schärfer als früher. Das liegt nicht nur an den
Erfordernissen der Terrorismusbekämpfung, sondern es ist auch im Sinne der
Maghrebpolitik der EU. Europa wünscht sich, dass nordafrikanische Länder
Migranten aus Afrika südlich der Sahara möglichst schon an den eigenen
Grenzen abfangen sollten, und stellt für Abschottung in der Wüste reichlich
Mittel zur Verfügung. An sämtlichen Straßen im Süden Algeriens kann das
Militär verdächtige Reisende abfangen und wortwörtlich in die Wüste
zurückschicken. Daher der Versuch dieser Nigrer, abseits der Straße nach
Tamanrasset zu reisen.
Daraus zu schließen, die Toten seien Opfer von Menschenhandel, wie es jetzt
allgemein in internationalen Berichten getan wird, ist allerdings
vermessen. Nigrischen Meldungen zufolge hatten zumindest einige der
Reisende Verwandte in Tamanrasset und wollten dort auch nur kurz bleiben.
Ihre Reise wurde von einer in Tamanrasset ansässigen Nigrerin organisiert.
Die haben die algerischen Behörden jetzt als Schleuserin verhaftet und nach
Niger deportiert.
Das Drama in der Sahara wirft somit ein Schlaglicht auf die wahren Probleme
der afrikanischen Migration, bei denen Ertrinken im Mittelmeer eher die
Ausnahme darstellt. Wie überall auf der Welt findet der Großteil der
zwischenstaatlichen Wanderungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent
innerhalb Afrikas statt: rund 65 Prozent im Falle Afrikas südlich der
Sahara, der höchste Anteil weltweit, heißt es in einer Studie der
Afrikanischen Entwicklungsbank. Aus ganz Afrika landen nur 29 Prozent aller
Migranten in Europa, die allermeisten davon aus dem Maghreb. Von
Auswanderern aus Westafrika verbleiben knapp 90 Prozent innerhalb ihrer
Heimatregion.
Afrikas wichtigste Wanderströme führen historisch von Mali und Burkina Faso
in die Elfenbeinküste, von Niger nach Nigeria, von Äthiopien und Eritrea
nach Sudan, von Sambia und Burundi nach Tansania, von Mosambik, Lesotho und
Simbabwe nach Südafrika. Dazu kommen auch Massenfluchtbewegungen infolge
von Bürgerkriegen, mit Ländern wie Somalia, die Demokratische Republik
Kongo oder die Zentralafrikanische Republik als wichtige Ursprungsländer.
## Jugend auf Arbeitssuche
Zwar leben 140 Millionen Menschen mit afrikanischen Wurzeln außerhalb
Afrikas, aber die meisten davon sind Nachfahren des Sklavenhandels. Aus
keinem Kontinent haben so wenige Menschen freiwillig und erfolgreich in
einen anderen Kontinent auswandern können. Das erschwert Afrikas
Armutsbekämpfung.
Historisch prosperieren Weltregionen dann am schnellsten, wenn sie ihre
arbeitsuchende Jugend millionenfach nach Übersee ziehen lassen. Davon
profitierte Europa vor gut hundert Jahren, verwehrt aber Afrika dieselbe
Chance unter Inkaufnahme Zehntausender Toter im Mittelmeer. Dramen wie in
Niger sind eine mittelbare Folge.
Die Tragödie in der Sahara ist für Afrika aber zuallererst eine eigene
Herausforderung. Die Lastwagen mit den 113 Hungermigranten aus Matameye
brachen am 15. Oktober aus Arlit auf, am Welternährungstag. Die Leichen
wurden am 30. Oktober geborgen, dem von der Afrikanischen Union
ausgerufenen „Afrikanischen Tag der Ernährungssicherheit“, der in Nigers
Hauptstadt Niamey mit einem Staatsakt begangen wurde.
„Afrika mobilisiert für das Recht auf ausreichende Ernährung“, schlagzeil…
am Donnerstag Nigers staatliche Tageszeitung Le Sahel und berichtete, die
Feier belege, wie prioritär dieses Thema für Niger sei. Die Toten in der
Wüste blieben unerwähnt.
31 Oct 2013
## AUTOREN
Dominic Johnson
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