# taz.de -- Flüchtlinge auf Lampedusa: Die Insel der kleinen Gesten | |
> Hilfesuchende Flüchtlinge, eine hilfsbereite Bevölkerung, eine | |
> überforderte Bürgermeisterin, eine inaktive Regierung: zu Besuch in | |
> Lampedusa. | |
Bild: Die Überlebenden trauern um die Toten: Flüchtlinge in Lampedusa. | |
LAMPEDUSA taz | Schüchtern nähert sich die kleine ältere Dame dem | |
geschlossenen Gittertor des Flüchtlingslagers. Es befindet sich zwei | |
Kilometer außerhalb der Ortschaft Lampedusa auf der Insel Lampedusa, die | |
rund 200 Kilometer vor der sizilianischen Küste liegt, näher an Tunesien | |
als an Italien. | |
„Was wollen Sie?“, stoppt sie ein hochgewachsener Mann in Zivil, in der | |
Hand ein Walkie-Talkie. – „Kleidungsstücke abgeben.“ – „Für wen?“… | |
die Flüchtlinge halt“, erwidert die Frau, während sie durch das Gitter zu | |
den syrischen Familien schaut, die gleich hinter dem Tor im Freien unter | |
Pinien kampieren. „Kommt gar nicht infrage!“, bellt der Beamte des | |
Innenministeriums, ganz so, als hätte die Frau ein unsittliches Anliegen | |
vorgebracht – und sie tritt beschämt, mit gesenktem Kopf den Rückzug an. | |
Ihre zwei Tüten nimmt sie wieder mit. | |
Die Flüchtlinge, aus Eritrea, Syrien oder Nigeria; der italienische Staat; | |
die Lampedusaner – es sind drei Welten, die in diesen Tagen auf der kleinen | |
Insel aufeinandertreffen. Völlig überfüllt ist das „Zentrum für die | |
Erstaufnahme“, das eigentlich 280 Plätze bereithält, in dem aber in der | |
vergangenen Woche mehr als 1.000 Menschen einquartiert waren. Menschen, die | |
dem syrischen Bürgerkrieg entflohen sind; eine Schar von kleinen Kindern | |
tollt zwischen den Uniformträgern, zwischen Soldaten und Carabinieri über | |
den Hof, Pappkrönchen auf dem Kopf, darauf ihre Namen geschrieben, Noor, | |
Hassan, Ahmed. | |
Und dann die jungen Männer aus Eritrea, die den Schiffsuntergang überlebt | |
haben, die Katastrophe vom 3. Oktober, die 365 Menschenleben forderte. | |
Rauchend sitzen sie am Kaffeeautomaten. Nein, keiner weiß, was in den | |
nächsten Tagen mit ihnen passieren wird, ob sie aufs Festland gebracht | |
werden und wohin, nach Rom oder Mailand. „Uns sagt keiner was“, meint einer | |
von ihnen. | |
## „Keine Logik“ | |
Dabei hatte Italiens Ministerpräsident Enrico Letta gleich nach der | |
Tragödie vor zweieinhalb Wochen feierlich verkündet: „Wir betrachten die | |
Toten als italienische Staatsbürger“, dazu stellte er ein Staatsbegräbnis | |
für die 365 Opfer in Aussicht. Und Roms Bürgermeister Ignazio Marino | |
versprach, alle 155 Überlebenden würden in seiner Stadt Aufnahme finden. | |
Große Worte, leere Versprechungen. | |
Ziellos wandert eine Eritreerin über die Via Roma, die Hauptstraße des | |
Hauptorts der Insel, vorbei an Bars und Restaurants. Aus Aachen sei sie | |
angereist, berichtet sie, auf der Suche nach dem Leichnam ihres 27-jährigen | |
Bruders, der bei dem Schiffsunglück ertrank. Auf Fotos hat sie ihn nicht | |
wiedererkannt, viele der Toten wurden erst nach Tagen geborgen, waren in | |
einem Zustand, der eine Identifizierung kaum noch erlaubte. | |
Sie würde gern einen DNA-Test machen lassen, „aber keiner der Beamten kann | |
mir sagen, an wen ich mich wenden muss“. Die junge Frau berichtet, dass | |
andere Angehörige, angereist aus Schweden, Holland, Deutschland, ins | |
sizilianische Agrigent geschickt worden seien – um dort ebenfalls ins Leere | |
zu laufen. Ihr Gesicht ist verhärmt, immer wieder schüttelt sie den Kopf, | |
„keine Logik“, murmelt sie, „bei den italienischen Behörden gibt’s ein… | |
keine Logik“. | |
Teklit, ein schlaksiger Junge aus Eritrea, ist aus Turin gekommen. Dort | |
lebt er in einem Asylantenaufnahmeheim, auch er kam über Lampedusa nach | |
Italien. Sein Cousin gehört zu den Todesopfern der Katastrophe, und Teklit | |
hat schon die DNA-Tests dabei, von sich selbst und von dem Bruder des | |
Toten. Doch keiner sagt ihm, wem er die Tests übergeben kann. Ein | |
Krisenstab, ein Kontaktbüro für die Angehörigen der Opfer, die zu Dutzenden | |
nach Lampedusa gekommen sind? Fehlanzeige. | |
## Das schmutzige Geschäft der Flüchtlingsabwehr | |
Doch gleich hat Teklit einen Termin, mit Alessia. Sie will mit ihm zum | |
Flüchtlingslager rausfahren, damit er dort mit einem Polizeioffizier reden, | |
ihm vielleicht seine Unterlagen geben kann. Alessia hat keinerlei | |
offizielle Funktion, sie ist weder Beamtin noch gehört sie zum Roten Kreuz | |
oder einer anderen der vielen Hilfsorganisationen. Alessia ist einfach | |
Bürgerin von Lampedusa, und sie ist in dem kleinen Verein Askavusa aktiv. | |
„Jeden Tag sind wir am Flughafen und gucken, ob unter den ankommenden | |
Passagieren Eritreer sind“, erzählt die 26-Jährige mit den stiftkurz | |
geschnittenen Haaren. „Wenn wir welche treffen, laden wir sie ins Auto, | |
bringen sie zu einer Ferienwohnung, zu einem Hotel oder auch zu | |
Privatleuten. Da werden sie gratis untergebracht.“ | |
Auf die Flüchtlingspolitik Italiens und der EU mit der „systematischen | |
Militarisierung des Mittelmeers“ sind die linken Aktivisten von Askavusa | |
nicht gut zu sprechen. Und auch nicht auf die Hilfsorganisationen, „die die | |
Backe des Flüchtlings, der gerade eine schallende Ohrfeige bekommen hat, | |
zart streicheln“, wie Alessias Mitstreiter Giacomo ebenso bitter wie blumig | |
bemerkt. Die Sicherheitskräfte besorgten das schmutzige Geschäft der | |
Flüchtlingsabwehr, schimpft er über diese Art der „Arbeitsteilung“, die | |
Hilfsorganisationen steuerten völlig unkritisch ihren karitativen Einsatz | |
bei. | |
## Den Flüchtlingen ein Gesicht geben | |
Der Musiker Giacomo ist auf Lampedusa geboren, während Alessia auf der | |
Insel „hängen geblieben ist“. In Rom oder Turin wären sie in einem | |
Autonomen Zentrum aktiv – in Lampedusa, das keine Uni hat, bilden sie ein | |
kleines Grüppchen. Mit ihrem Verein bauen sie ein „Museum der Emigration“ | |
auf; sie tragen von Flüchtlingen stammende Fundstücke zusammen, Briefe, | |
Babyfläschchen, Talismane, um, so sagt es Giacomo, „den Flüchtlingen ein | |
Gesicht zu geben. Sie sollen nicht als gesichtslose Masse in Erinnerung | |
bleiben.“ | |
Mit dem politischen Engagement stehen die Leute von Askavusa auf Lampedusa | |
einigermaßen allein da – nicht aber mit ihrer Hilfsbereitschaft. | |
„Passport?“, fragt ein eritreischer Junge abends auf der Via Roma einen | |
Passanten, erklärt ihm, dass er im Telefonladen eine SIM-Karte nur mit | |
einem gültigen Dokument bekommt – das er nicht besitzt. Sofort geht der | |
ältere Herr mit ihm in den Telefonladen und erwirbt das Gewünschte für ihn. | |
„Die Leute von der Insel“, sagt der Junge, „sind alle äußerst freundlich | |
und hilfsbereit zu uns.“ | |
Gerade mal 6.000 Menschen leben auf Lampedusa; ihr Geld verdienen sie mit | |
Fischfang, vor allem aber mit Tourismus. „Der Tourismus leidet natürlich | |
schwer, wenn die Menschen im Fernsehen die Bilder von den Flüchtlingen | |
sehen“, sagt Vito, Inhaber einer Eisdiele. | |
Touristen kann man in den Lokalen an der Via Roma an einer Hand abzählen – | |
stattdessen ist die Flüchtlingsindustrie eingefallen. Malteser-Helfer in | |
Uniform, junge Leute mit „Save the children“-Leibchen, internationale | |
Kamerateams, Journalisten mit Aufnahmegeräten und Notizblöcken beherrschen | |
zusammen mit den schwarzafrikanischen oder arabischen Flüchtlingen das | |
Straßenbild. Doch den Boatpeople macht Vito keinen Vorwurf, er selbst hat | |
bei sich zu Hause ein junges eritreisches Paar einquartiert. | |
## „So geht das überall“ | |
Das Städtchen ist über Tage voll mit Flüchtlingen, überwiegend Syrern und | |
Eritreern, die der Lagermonotonie entfliehen. Die meisten tragen | |
Jogginganzüge aus Ballonseide. Auf einer Bank sitzt ein alter Mann aus dem | |
Ort, neben ihm zwei blutjunge Eritreer. Sie können kein Italienisch, er | |
kann kein Englisch – und doch reden die drei angeregt. | |
Eigentlich dürften die Eritreer gar nicht raus aus dem Lager, berichten | |
sie. „Aber der Zaun hat Löcher“, ergänzt einer mit Grinsen – und die | |
italienischen Behörden drücken beide Augen zu. Die Stimmung in den Cafés | |
ist entspannt. Gianluca kassiert an einem Tisch bei acht oder neun | |
Eritreern; als er bei 10 Euro angekommen ist, bricht er die Addition ab und | |
sagt „basta“. | |
„So geht das überall“, meint Semhar. Die schlanke, hochgewachsene Frau ist | |
Eritreadeutsche, sie studiert Sozialwissenschaften in Kaiserslautern. | |
Zusammen mit zehn anderen Eritreern aus Amsterdam, Frankfurt, Mailand, Rom | |
ist sie angereist, um den Überlebenden der Katastrophe beizustehen und | |
Landsleuten zu helfen, die voll Verzweiflung auf der Suche nach ihren | |
Angehörigen sind. | |
Der Krisenstab, den Italien nicht auf die Beine stellen konnte – die | |
eritreischen Kulturvereine in Europa haben ihn hinbekommen. Auf die | |
Lampedusaner lassen die jungen Eritreer nichts kommen, doch auf die | |
italienischen Behörden ist keiner der Angereisten gut zu sprechen. Die | |
einzige Ausnahme macht für sie Giusi Nicolini, Lampedusas Bürgermeisterin. | |
## „Wir werden im Stich gelassen“ | |
Erst vor gut einem Jahr gewann die 52-Jährige die Kommunalwahlen – auch mit | |
klaren Ansagen zu einer liberalen Flüchtlingspolitik. Giusi Nicolinis | |
Gesicht ist müde, als sie im Rathaus empfängt. Zwei Wochen Krisenmanagement | |
rund um die Uhr hat sie hinter sich. Ein Gutes, sagt sie, wenn man das so | |
sagen könne, habe die Tragödie vom 3. Oktober mit sich gebracht. Vorher | |
ertranken die Menschen weit draußen, auf dem offenen Meer. | |
Jetzt dagegen geschah das Unglück direkt vor der Insel, die Toten wurden | |
geborgen, „und zum ersten Mal überhaupt kamen Scharen von Angehörigen zu | |
uns, zum ersten Mal haben viele Menschen begriffen, dass diese Flüchtlinge | |
Familien haben, Brüder, Schwestern, Cousins, ganz genauso wie wir“. | |
Giusi Nicolini sagt auch einen Satz, den man von Inselbewohnern immer | |
wieder hört. „Wir werden im Stich gelassen“ – von Europa und von Italien. | |
Unten am Hafen hängt ein Transparent aus den Tagen, als Regierungsvertreter | |
und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hier ihre Kondolenzbesuche | |
absolvierten. „Wir fühlen uns nicht als Italiener“, steht darauf. | |
23 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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