Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch über Urbanität und Freiheit: Die Bühne der Zusammenstöße
> Ist die Emanzipation in Großstädten wirklich nur um den Preis der
> Zerrissenheit möglich? Eine Neuerscheinung stellt sich dieser Frage.
Bild: Die Großstadt als Bühne der Emanzipation.
Stadtluft, so wusste es schon das Mittelalter, Stadtluft macht frei,
allerdings: Es scheint, als ob das, was man „Stadt“ nennt, erst in der
Moderne zu sich gekommen ist. Stadtluft macht frei – heißt das, dass
Befreiung und Emanzipation erst in der Stadt möglich wurden?
Die Stadt – obwohl sehr viel früher entstanden – ist die Lebensform der
Moderne. Ohne dass man sich ihrer immer bewusst ist, prägt sie doch Alltag
so gut wie Erleben, stellt sie den vorbewussten, unthematischen Hintergrund
allen Handelns, Denkens und Fühlens dar.
Der Gießener Historiker Friedrich Lenger entfaltet die Geschichte der
„europäischen“ Stadt heute – zu Beginn eines 21. Jahrhunderts, in dem
Global Cities wie New York, Hongkong oder Delhi die Welt mindestens so
stark prägen werden wie London, Paris, Wien oder Berlin das 19. und 20.
Jahrhundert geprägt haben.
In seiner Studie verbindet er die Geschichte des Wohnens, von Architektur
und Stadtplanung mit der Geschichte von Klassenkämpfen und der Evolution
der Technik; mit vielfältigen Themen, die er ebenso im Blick hat wie den
durch die Boulevardpresse verursachten „Strukturwandel der Öffentlichkeit“.
## Eine Geschichte des Wohnens und der Klassenkämpfe
Lenger unterteilt den von ihm beobachteten Zeitraum in drei Abschnitte: in
die klassische Epoche seit 1850, mit Exkursen zu dem schon von Walter
Benjamin ausgezeichneten Paris als der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts;
sodann in die Epoche der Weltkriege, in der es um die innerliche und
äußerliche Zerstörung städtischen Lebens, den „Urbizid“ geht, und
schließlich Europas Städte seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch
des Warschauer Pakts.
Dabei war zunächst zu klären, welcher Siedlungstyp überhaupt als
„europäische“ Stadt zu gelten hat. Lenger weiß, dass er sich des
Orientalismus verdächtig macht, wenn er als Gegentyp der „europäischen“ d…
„islamische“ Stadt bestimmt: einen Siedlungstypus, der in baulicher Gestalt
und sozialer Organisation durch Geschlechtertrennung und ethnisch
segregierte Wohnviertel bestimmt gewesen sei.
Nach dieser nicht wirklich informativen Unterscheidung wird es möglich, den
Blick von Paris und London, von Wien und Berlin zu lösen und die ganze
Bandbreite europäischer Städte von Barcelona im Westen über Lemberg bis
nach Istanbul im Osten in den Blick zu nehmen.
Trotz einer Fülle ethnischer, kultureller und politischer Differenzen
ergeben sich dann eine Reihe überraschender Gemeinsamkeiten: So fanden
Wanderungen keineswegs nur vom Land in die Stadt statt; Wanderungen, die
allemal zu Unterschichtungen mit der Folge klassenbezogener Segregation von
Stadtteilen führten.
## Die moderne Stadt aus postkolonialer Perspektive
Folgt man der Geschichte der modernen Stadt in postkolonialer Perspektive,
so ist einzuräumen, dass Lenger dieses Thema mit der Analyse von
Hafenstädten und den – man glaubt es kaum – in zoologischen Gärten
stattfindenden „Völkerschauen“ durchaus abhandelt, er jedoch dem Umstand,
dass etwa London und Paris Hauptstädte weltumspannender Imperien waren, die
im 19. Jahrhundert in engstem ökonomischem und kulturellem Austausch mit
den Kolonien standen, zu wenig Augenmerk schenkt.
Immerhin: Der bürgerliche Schauder vor der Fremdheit Asiens und Afrikas
führte in Städten wie London schnell zur vermeintlichen Entdeckung eines
inneren Dschungels, der – obwohl räumlich so nah – allemal so fremd und
unheimlich wie das „Herz der Finsternis“ wirkte.
Bemühungen um gesundes Wohnen, um Armenhilfe und verbesserte Erziehung, wie
sie als Politik der Disziplinierung, aber auch der Emanzipation in beinahe
allen Städten betrieben wurden, gerieten schnell in den Verdacht,
„sozialistisch“ zu sein.
Dabei stand im Zentrum sozial- und gesundheitspolitischer Bemühungen in der
städtischen Klassengesellschaft vor allem die Frage nach bezahlbarem
Wohnraum für die meist alleinstehenden, in der Industrie schuftenden
Arbeiter sowie die sich im Dienstleistungsbereich plagenden Arbeiterinnen.
Sie blieben unter sich: Übervölkerte, kleine Wohnungen wiesen neben
Familienangehörigen sogenannte „Bettgeher“ auf, Männer und Frauen also, d…
für einige Stunden ein Bett als Schlafplatz mieteten, um es kurz darauf –
im Schichtsystem – einer anderen Person zu überlassen.
## Elend der Arbeiter hier, Kulturtempel dort
Dem Elend von Arbeitern und Dienstboten hier korrespondierten leuchtende
Kulturtempel dort: Museen, Theater und Opernhäuser, in denen sich die
Klasse der Bourgeois präsentierte. So wurde die moderne europäische Stadt
zur Bühne, zu einer Öffentlichkeit, in der Lebensformen und Lebensentwürfe
unversöhnlich aufeinanderstießen – etwa anlässlich von Demonstrationen der
Arbeiterschaft unter den Augen der stets argwöhnischen Staatsmacht.
Nicht zuletzt aber – und das weckt Zweifel an der Entgegensetzung von
europäischer und orientalischer Stadt – war die moderne Stadt in ihren
Anfängen ein Ort, in dem eine eigene Genderordnung herrschte. In nicht
wenigen Stadtvierteln und Straßen durften sich „respektable“ Damen nicht
sehen lassen, während arbeitende junge Frauen – zum Beispiel Kellnerinnen –
in den Augen der Obrigkeit grundsätzlich unter Prostitutionsverdacht
standen.
Schließlich bemächtigte sich die Kulturkritik der Großstadt als Ursache
unsteter Subjektivität. So stellte der Soziologe Georg Simmel 1903 fest:
„Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer
Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus
dem raschen und ununterbrochenen Wechsel innerer und äußerer Eindrücke
hervorgeht.“
Diese – Simmel selbst trifft das nicht – meist antiurbane und nicht selten
antisemitische Kulturkritik traf nach dem nicht nur an der Front
herrschenden Elend des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik, zumal in
Berlin, auf eine sich selbst fiebrig feiernde liberale Kultur.
Berlin schien darüber hinaus Ort eines permanenten Bürgerkriegs zwischen
kommunistischen und nationalsozialistischen Milizen zu sein – ein Mythos,
der jedoch, betrachtet man die Kriminalstatistiken, nicht zutrifft. Im
Kaiserreich war die registrierte Gewalttätigkeit alles in allem nicht
geringer.
## Das Ende der städtischen Vielfalt
Für Deutschland schließlich kann die NS- und Weltkriegszeit als Epoche des
„Urbizids“ gelten: Nicht erst die Bombenkriege zerstörten das städtische
Leben – schon vorher vernichtete die nationalsozialistische Politik mit
ihren Pogromen, ihrer Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung, der Juden,
alles, was die Vielfalt städtischen Lebens einmal ausgemacht hatte.
Am Ende standen zerstörte Städte, Trümmerwüsten – paradoxerweise von nicht
wenigen Raumplanern herbeigesehnt: bestehe doch jetzt endlich die Chance,
die moderne Stadt grundlegend neu aufzubauen.
Ans Ende seines Buchs hat Lenger Überlegungen zu vergeblichen Bemühungen
einer Entproletarisierung großer Städte, zu sozialen und politischen
Brüchen in den Großstädten des Warschauer Pakts sowie zu Wohn- und
Lebensformen der Achtundsechziger gestellt.
## Fülle an kultur- und technikhistorischem Material
Der mit 64 ansprechenden Farbtafeln zu klassischen Großstadtgemälden
versehene Band bietet eine solche Fülle an sozial-, kultur- und
technikhistorischen Informationen, dass eine Summe nicht zu ziehen ist. Der
Autor selbst hat der Versuchung widerstanden, aus seinen Erkenntnissen
geschichtsphilosophische Konsequenzen zu ziehen.
1960 hat der in der NS-Zeit mindestens opportunistische Philosoph Joachim
Ritter in einem berühmten Aufsatz zur „großen Stadt“ die These des
griechischen Philosophen Aristoteles, dass „Menschsein“ und
„Stadtbürgerschaft“ dasselbe seien, zwar beglaubigt, aber um Hegels
Einsicht in die „Entzweiung“ als Prinzip der Moderne ergänzt.
Sind also Freiheit, Emanzipation in der Stadt nur um den Preis der
Zerrissenheit möglich? Lengers monumentale Darstellung unserer räumlichen
Lebensform bietet Anlass, diese These zu überprüfen.
30 Dec 2013
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Großstadt
Emanzipation
Moderne
Kulturkritik
Europa
zionismus
Walter Benjamin
Dortmund
Messe
Polizei
Fernsehserie
Städte
Bildband
## ARTIKEL ZUM THEMA
Sachbuch über Großstadtleben: Wir und die Stadt
Das unterhaltsame Buch „Stress and the City“ ist eine Liebeserklärung an
das Großstadtleben. Geschrieben wurde es vom Psychiater Mazda Adli.
Kolumne Gott und die Welt: Der Drill der frühen Siedler
Die vom Historiker Julius Schoeps publizierte Studie „Der König von Madian“
zeigt, dass alles Erhabene und Tragische im Lächerlichen wurzelt.
Buch über Walter Benjamins Familie: Erinnern und vergessen
Uwe-Karsten Heye erinnert an die Frauen der Familie von Walter Benjamin.
Beim Kapitel über Dora Benjamin hat er aber die Quellenangabe vergessen.
Konferenz über Strukturwandel: Aus dem Nichts geschöpft
In Dortmund diskutierten Künstler und Wissenschaftler die Rolle von „Geld
und Schulden in der postindustriellen Welt“. Utopien stehen im Zentrum der
Debatte.
Bürgerentscheid gegen Messeumbau: Kohle rausballern im Pott is nich!
Essens BürgerInnen votieren gegen das Kirchturmdenken in Deutschlands
größter Metropolregion. Sie stimmen gegen den teuren Ausbau der Messe.
Kölner Polizeipräsident über Demos: „Ich hatte immer ein bisschen Schiss“
Polizeipräsident Albers war selbst mal Demonstrant. Er erzählt vom Umgang
mit Naziaufmärschen und wünscht sich mehr Verständnis für die Arbeit der
Polizei.
Frauen in Fernsehserien: Erfolgreich, aber einsam
Wie nie zuvor in der TV-Geschichte bieten Fernsehserien weiblichen
Hauptfiguren eine Plattform. Allerdings gibt es da einen großen Haken.
Städte-Vergleich in Deutschland: „Die Stärke liegt in der Provinz“
Autostädte sind die Sieger des Jahres im Ranking der Wirtschaftswoche. Doch
was bedeutet das für ihre Bewohner?
Gated Communities: Unter uns
Mit oder auch ohne Zaun: Der Wunsch, unter sich zu bleiben, grassiert in
der oberen Mittelschicht. Gegen dieses „gated housing“ hilft nur ein neuer
städtischer Konsens.
Hamburgs bauliches Gesicht: Der Stadtreformer
Sozialer Wohnungsbau und Wachstumsachsen, Kunst am Bau und die Stadt als
Ganzes: Wie kein Zweiter hat Oberbaudirektor Fritz Schumacher Hamburg
geprägt. An sein Tun erinnert dort jetzt eine Ausstellung.
Bildband über Urbanes Grün: Ein Leben im Commonismus
Ein Bildband feiert die Erfindungen der postfordistischen Stadtbewohner:
Commons, Gemeinschaftsgärten, offene Werkstätten – und überhaupt: Do it
together!
Autostädte im Vergleich: Von Detroit lernen
Wolfsburg ist in Deutschland das, was Detroit in den USA ist: Ein Stadt,
die für die Autoindustrie lebt. Doch Detroit wurde von Künstlern entdeckt.
Eine Ausstellung zeigt ihre Arbeiten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.