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# taz.de -- Autostädte im Vergleich: Von Detroit lernen
> Wolfsburg ist in Deutschland das, was Detroit in den USA ist: Ein Stadt,
> die für die Autoindustrie lebt. Doch Detroit wurde von Künstlern
> entdeckt. Eine Ausstellung zeigt ihre Arbeiten.
Bild: Arbeitet hart am Faktor Lebensqualität: Die deutsche Auto-Metropole Wolf…
WOLFSBURG taz | Am 1. Juli wird Wolfsburg 75. Aber im Gegensatz zum 70.
Geburtstag 2008 feiert man das diesjährige Jubiläum nicht mit einer
Leistungsschau zum bisher Erreichten in Architektur, Städtebau und Kultur –
hier kann die Stadt dank ihrer sehr auskömmlichen finanziellen Ausstattung
vieles aufweisen. Nachdenklichere Töne bestimmen die diesjährigen
Veranstaltungen.
In einem in der Bauwelt erschienenen Interview sieht Wolfsburgs
Stadtbaurätin Monika Thomas Handlungsbedarf ob der fehlenden Urbanität der
Innenstadt. Seit langer Zeit fehlen außerdem attraktive Wohnungsangebote
für eine immer anspruchsvoller werdende Nachfrage, die relative
Bedürfnislosigkeit der Wolfsburger Aufbaujahre scheint endgültig vorbei.
Dieser Umstand führt dazu, dass derzeit täglich über 67.000 Menschen nach
Wolfsburg einpendeln, um bei VW oder seinen Satelliten zu arbeiten. Neben
den klassischen Häuslebauern, die der Landkreis Gifhorn als späte Rache für
das Ausscheiden Wolfsburgs aus dem gemeinsamen Landkreis im Jahr 1951 mit
Baugrund versorgt, sind es auch Pendler der Managementetagen, die sich aus
ihren wohlig patinierten Braunschweiger und Berliner Gründerzeitvierteln
auf den Weg nach Wolfsburg machen.
Bis 2020, so Thomas, möchte Wolfsburg 7.000 neue Einwohner dazugewinnen –
ein „hehres Ziel“, wie sie sagt. Ob die Bedürfnisse gerade der
letztgenannten Klientel allerdings zu befriedigen sind, bleibt abzuwarten.
Aber die Stadt sieht eine Chance, sich urbaner zu verdichten.
Dem entgegengesetzten Szenario, der sich entleerenden Stadt, widmen sich
derzeit eine Ausstellung des Wolfsburger Kunstvereins sowie eine
Veranstaltungsreihe des kommunalen Instituts für Zeitgeschichte und
Städtepräsentation.
Als Paradebeispiel einer ehemals boomenden Stadt, die an ihren
städtebaulichen Visionen aber auch ihren ökonomischen und sozialen
Problemen zu scheitern droht, gilt Detroit. Parallelen, bei allen
Dimensionsunterschieden, sind gegeben: Hier wie da hängt die Stadt am
wirtschaftlichen Monopol der Autoindustrie.
In Detroit produzieren die großen drei US-amerikanischen Firmen Ford, GM
und Chrysler, das Ford T-Modell lief hier 1909 vom Band. Die Stadt wuchs
rasant, in den 1920er-Jahren entstanden Hochhäuser in schönstem Art déco,
dazu Warenhäuser und Kinos mit 5.000 Sitzplätzen.
In Detroit gab es die ersten Stadtautobahnen und Straßen mit Betonbelag.
Zwischen 1900 und 1950 stieg die Einwohnerzahl von gut 285.000 auf 1,85
Millionen. Dann kippte die Situation. Zum einen beförderte der gelebte
Automobilismus die Suburbanisierung. Zum anderen trieben ungelöste
Rassenkonflikte und Ressentiments die reichere weiße Bevölkerung in die
Peripherie.
Mittlerweile leben nur noch rund 713.000 Einwohner auf einer Stadtfläche,
die locker San Francisco, Boston und Manhattan zusammen aufnehmen kann.
Schätzungsweise 80.000 Einfamilienhäuser sollen leer stehen, 35% des
Stadtgebietes gelten als unbewohnt. Die Arbeitslosenquote wird auf 15 bis
30% geschätzt, jeder zweite Bewohner lebt von Lebensmittelkarten, jeder
dritte kann nicht richtig lesen und schreiben.
Detroit weist eine der höchsten Kriminalitätsraten der USA auf und steht
seit März dieses Jahres wegen Insolvenz unter der Zwangsverwaltung des
Bundesstaates Michigan. Und das alles, obwohl sich die amerikanische
Automobilindustrie seit der Krise 2008 erholt hat und wieder schwarze
Zahlen schreibt.
Dieser Horrorvision einer sich auflösenden Stadt stellt sich der
US-amerikanische Pioniergeist entgegen. Müllabfuhr, Straßenreinigung und
die Aufgaben der Polizei werden mitunter selbst organisiert, eine
Subsistenzwirtschaft besetzt mit urban farming-Brachen und leer stehenden
Fabriken.
Und Detroit ist ein Mekka für Künstler. Nach Jahren, in denen Fotos
verfallender Fabriken und vormaliger Prachtbauten einem ruin porn frönten,
gewinnen aktuelle Kunstströmungen an Substanz, reflektieren die Experimente
selbstbestimmter Lebensmodelle einer postindustriellen Stadt – und ziehen
weitere junge Kreative in die Stadt.
So kam die Performancekünstlerin und Dichterin Jessica Care Moore aus New
York in ihre Geburtsstadt Detroit zurück, liebt nun die Ruhe und erkundet
mit Graffiti-Künstlern und Filmern das kulturelle Substrat des Verfalls.
Oder Scott Hocking: Er betreibt eine Archäologie der Zukunft, stellt
Artefakte industrieller Hinterlassenschaften in pseudowissenschaftlicher
Manier aus. Oder Chido Johnson, zugezogen aus Zimbabwe: Er baut in
Workshops die wire cars seiner afrikanischen Kindheit und lässt die
filigranen Automodelle über ehemalige Autopisten schieben.
„Learning from Detroit“ heißt mit ironischem Unterton das Wolfsburger
Gemeinschaftsprojekt. Aber was könnte Wolfsburg aus den künstlerischen
Reagenzgläsern Detroits lernen? Zuvorderst Gelassenheit, die urbanen
Maßstäbe sind einfach zu verschieden. Während selbst das perforierte
Detroit noch immer eine Bevölkerungsdichte von gut 1.900 Einwohnern pro
Quadratkilometer aufweist und damit nicht weit unter der Hamburger
Durchschnittsdichte liegt, leben in Wolfsburg lediglich 600 Einwohner auf
dieser Fläche.
Diese aktive Urbanitätsverweigerung wäre als System Wolfsburgs anzuerkennen
– was allerdings die vitale Aufgabe einer Stadt, ihren Einwohnern eine
gerechte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen,
mitnichten anspruchsloser macht.
## „Learning from Detroit“: bis zum 25. August, Kunstverein, Schloss und
City Gallery, Wolfsburg
24 May 2013
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Großstadt
Detroit
Detroit
Frankfurt
USA
Volkswagen
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