# taz.de -- Syrer in Berlin: Die Heimat, die es nicht gibt | |
> Sami kam aus Syrien für ein Praktikum nach Berlin und wollte wieder | |
> zurück. Erst im letzten Moment entschied er sich zu bleiben. Ein | |
> Protokoll. | |
Bild: Aleppo wurde „befreit“, indem die Menschen aus ihren Häusern vertrie… | |
Es ist so, als würde ich zwei unterschiedliche Leben führen. Tagsüber bin | |
ich in Berlin, nachts träume ich von Damaskus. Ich sehe meine alte Wohnung | |
und all meine Freunde. Weil ich in der Innenstadt wohnte, hatte sich meine | |
Wohnung mit Beginn des Kriegs in einen Treffpunkt verwandelt. Wenn es zu | |
gefährlich wurde, um allein unterwegs zu sein, blieben Freunde oft über | |
Nacht bei mir. Erst vor wenigen Wochen haben sie die Wohnung für mich | |
aufgelöst und meine Sachen in ihren Kellern verstaut. | |
Eigentlich wollte ich nicht in Deutschland bleiben. Nach meinem Praktikum | |
in Berlin hatte ich vor, nach Damaskus zurückzukehren und meine | |
Archivarbeit fortzusetzen. Diese Aufgabe hatte ich mir als Journalist | |
während des Kriegs selbst aufgetragen: syrische Zeitungen, politische | |
Journale und Kunstmagazine aus den 50er bis 70er Jahren zu digitalisieren. | |
Ich rettete mich in die Arbeit. Während des Irakkriegs nämlich waren alle | |
Schriften des Landes einfach verschwunden oder landeten auf den Flohmärkten | |
der Nachbarländer. In Syrien durfte nicht dasselbe passieren, also sicherte | |
ich alles, was ich finden konnte. | |
Viele Syrer warten monatelang vor den Botschaften in Beirut oder Istanbul, | |
um nach Europa reisen zu dürfen. Als es mir mit der Unterstützung des | |
Goethe-Instituts innerhalb von nur zwei Wochen gelang, ein Visum für meinen | |
Deutschlandaufenthalt zu besorgen, fingen Freunde und Familie an, mich | |
unter Druck zu setzen. „Sei nicht verrückt, Sami. Komm bloß nicht wegen dem | |
blöden Archiv zurück nach Syrien. Bleib in Deutschland“, rieten sie mir. | |
Dennoch oder gerade deshalb hatte ich das Gefühl, ihnen etwas beweisen zu | |
müssen: dass ich sie nicht im Stich lassen würde. | |
In Aleppo, wo meine Familie lebt, stürzte im September für mehrere Wochen | |
das gesamte Telefonnetz ab, es gab kein Internet, keine Kommunikation zur | |
Außenwelt. Das war zu meiner Anfangszeit in Berlin, ich war mir selbst | |
überlassen. Also konzentrierte ich mich auf das Praktikum und versuchte | |
möglichst viel über Deutschland zu lernen. | |
Bei den Proben eines Theaterfestivals lernte ich dann syrische Flüchtlinge | |
kennen, die in einem der Stücke involviert waren. Als ich von ihrer | |
Situation und ihrem Hintergrund erfuhr, bestärkte dies meinen Entschluss, | |
mich nicht um Asyl zu bewerben. Denn im Gegensatz zu ihnen, hatte ich in | |
Damaskus noch ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Ich will niemanden | |
seiner Chance berauben. | |
## Aleppo in Paris | |
Dann fuhr ich nach Paris. Mein älterer Bruder war aus Aleppo angereist, um | |
mich zu treffen. Er redete auf mich ein, ich hätte doch sowieso einen | |
Master im Ausland machen wollen. Das sei nun der richtige Zeitpunkt, sagte | |
er, ich solle mich an einer deutschen Uni einschreiben und bleiben. Er | |
würde mich finanziell mit all seinen Mitteln unterstützen. Das war zwar ein | |
zukunftsweisendes Versprechen für mich, dennoch war Paris nur eine weitere | |
Reise in die Vergangenheit. Die Architektur, der Essensgeruch in den | |
Gassen, alles erinnerte mich an Aleppo. | |
Ich stellte mir vor, wie ich mit zwei Frauen Arm in Arm durch die Straßen | |
spaziere. Eine davon war meine Cousine, mit der ich vor Jahren den | |
Französisch-Sprachkurs besucht hatte. Wir träumten immer davon, gemeinsam | |
nach Paris zu reisen. Die andere war meine Mutter. Ich fand immer, dass sie | |
im Herzen eine Pariserin ist. Sie trägt einen Bobschnitt und kleidet sich | |
sehr elegant. | |
Nostalgie empfand ich früher als lächerlich. Ich bin jemand, der in die | |
Zukunft blickt. Deshalb auch meine Leidenschaft zum Archiv: Ohne | |
Vergangenheit kann es keine Zukunft geben. Doch nun merke ich, wie meine | |
Freunde und ich immer nostalgischer werden, weil wir uns an die alten | |
Zeiten erinnern wollen, an die Zeiten vor dem Krieg. Wir schicken einander | |
alte Fotos zu, hören alte Musik. Die libanesische Sängerin Fairuz zum | |
Beispiel. Ich vergöttere sie. Fairuz ist wie eine Heimat, die es nicht mehr | |
gibt. Ihre Lieder erzählen unsere Geschichten, sie sind unser Zufluchtsort. | |
Erst vier Tage vor meinem Rückflug habe ich mich entschlossen, in Berlin zu | |
bleiben. Aus dem Moment heraus. Ich habe mich in einen Deutschkurs | |
eingeschrieben und ein zweijähriges Studentenvisum beantragt. Im Februar | |
steht ein Gespräch bei der Ausländerbehörde an. Dort entscheidet sich, ob | |
ich bleiben darf. Bis dahin muss ich einige Bedingungen erfüllen, zum | |
Beispiel ein Bankkonto eröffnen. Das ist nicht so einfach, denn aufgrund | |
der Sanktionen nimmt kaum eine deutsche Bank mehr Neugeschäfte mit Syrern | |
auf. | |
Irgendwie ist es eine schizophrene Situation. Einerseits will ich mich hier | |
einleben und neu anfangen. Andererseits fülle ich meinen Koffer mit | |
Geschenken für Freunde in Syrien und schleppe ihn von einer Wohnung in die | |
nächste. Andere Bekannte, die ebenfalls ausgewandert sind, versuchen an | |
ihren neuen Wohnorten Ähnlichkeiten zu Syrien zu finden. | |
Eine Freundin schrieb mir aus Norddeutschland, es gebe dort einen Park, der | |
genauso aussieht wie ein Park in Aleppo. Ich persönlich konnte in Berlin | |
noch nichts Vergleichbares finden. Was ich an der Stadt jedoch bewundere, | |
ist ihre Kriegsgeschichte. Kaum zu glauben, dass hier einst auch so ein | |
Chaos herrschte. Heute ist hier alles so gut strukturiert und geordnet, | |
dass ich oft völlig irritiert davon bin. Es überfordert mich. | |
## Bomben im Netz | |
Als ich noch in Syrien lebte, habe ich den Kriegsverlauf nicht wirklich | |
verfolgt. Wenn eine Bombe hochging, konnte ich hören, wie weit entfernt sie | |
von mir war. Ich habe Leichen auf der Straße liegen sehen, Wasserverkäufer | |
im Bus, die ihr Leben riskierten, um die Passagiere zu beschützen. Deshalb | |
wollte ich mir nie diese Youtube-Videos anschauen, in denen ständig neue | |
Märtyrer gefeiert werden. Ich sehe keinen Grund zum Feiern, weil noch mehr | |
Menschen sterben. Für nichts sterben. In Deutschland checke ich nun täglich | |
eine Website, die jede Bombe und ihre Ortskoordinaten verzeichnet. Damit | |
ich weiß, ob meine Familie in Sicherheit ist. | |
Ich habe an die Revolution geglaubt. Das Regime musste weg, es hat uns | |
vergiftet und verkauft. Meine Familie kommt aus der Landwirtschaft, deshalb | |
stehen wir sowohl mit dem Land als auch mit der Stadt in Kontakt. Wir haben | |
gesehen, was man für die Menschen auf dem Land getan hat: nichts. Man hatte | |
sie längst vergessen. Doch bald erkannte ich, dass ich auch der Opposition | |
nicht trauen kann. | |
Aleppo wurde „befreit“, indem die Menschen aus ihren Häusern vertrieben und | |
auf die Straße gesetzt wurden. Die Altstadt wurde komplett zerstört, die | |
Universität besetzt. Für mich haben die Player der Opposition dieselbe | |
Mentalität wie das Regime. In den befreiten Gebieten haben sie neue | |
Schulbücher drucken lassen. Darin wurde der obligatorische Gruß von Assad | |
einfach mit dem des Oppositionsführers Moas al-Chatib ersetzt. Es ist | |
dieselbe ideologische Scheiße wie vorher. Ich sehe wirklich keinen | |
Unterschied. | |
Und dann sind da noch die Dschihadisten. Syrien war immer ein Land von | |
religiöser und kultureller Vielfalt. Wir haben einander akzeptiert und | |
respektiert. Ich sehe, dass sich das verändert, und hoffe nur, dass es | |
nicht für immer so bleiben wird. Denn dann werde ich in Zukunft kein Syrer | |
mehr sein. Keine Ahnung, was ich dann bin. | |
1 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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