# taz.de -- Besuch im Kinderflüchtlingsheim in Beirut: Achmed ist sicher | |
> Es gibt nur dieses eine Haus. Es steht im Libanon. Kinder leben hier. Sie | |
> sind dem Krieg im Nachbarland Syrien entkommen. | |
Bild: „Wohin sollen wir unsere Kinder nach dem Krieg schicken, wenn sie niema… | |
BEIRUT taz | Es ist schwer zu sagen, ob der dreijährige Achmed Unglück | |
hatte oder Glück. Irgendwann, keiner weiß es, fliehen seine Eltern mit ihm | |
und seinen zwei älteren Geschwistern vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Sie | |
schaffen es in die libanesische Hauptstadt Beirut, dann verlässt der Vater | |
die Familie. | |
Als die Mutter nicht mehr weiß, wie sie ihre Kinder allein durchbringen | |
soll, setzt sie diese in ein Taxi. Sie drückt der Ältesten Geld in die Hand | |
und einen Brief. Sie beschreibt ihre Not, entschuldigt sich. Der Fahrer | |
bringt die Geschwister in das „Home of Hope“, das einzige Kinderheim im | |
Libanon, das auch Schutzlose ohne Papiere aufnimmt. Achmed stieg hier im | |
Sommer aus dem Auto. | |
„Bisher hat er kaum gesprochen“, sagt die Sozialarbeiterin Rita Makhlauf, | |
während sie dem schmalen Jungen übers schwarze Haar streicht. Als er ankam, | |
besaß er nur das, was er am Leib trug – wie viele hier. Ehrenamtliche | |
Psychiater und Psychotherapeuten kümmern sich hier um sie. | |
Drei Lehrer und drei Sozialarbeiter sind vorrangig damit beschäftigt, den | |
Kindern einen möglichst normalen Alltag und Schulunterricht zu ermöglichen. | |
Rita Makhlauf sagt, seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs sei das | |
Kinderheim zu einem Flüchtlingsheim geworden. | |
## Frieren in Würde | |
40 Jahre ist sie alt, seit 14 Jahren arbeitet sie im „Haus der Hoffnung“. | |
Von den 70 Kindern, die hier leben, stammen 38 aus Syrien. Das Heim liegt | |
nördlich des Stadtzentrums, etwa eine Autostunde entfernt. Die hohen Wände | |
sind mit bunten Bildern dekoriert oder bemalt, der wenige Weihnachtsschmuck | |
glitzert, die einfachen Möbel sind meist kaputt. | |
An den Wänden hängt Kabelsalat, die Leitungen sind in verwirrenden Bahnen | |
miteinander verlötet. Der Strom fällt regelmäßig aus, ein durchgängig | |
funktionierendes Wassersystem existiert nicht. Jetzt, im Winter kriecht die | |
Kälte durch die Mauern, der Betonboden ist eisig, die Heizung funktioniert | |
selten. | |
Aber dafür sind die Kinder in Sicherheit vor dem Krieg in ihrer Heimat und | |
dem Hass auf den Straßen Beiruts. Hier bekommen sie Geborgenheit, hier wird | |
ihre Würde respektiert. | |
## Nachts kommt die Panik | |
Seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im März 2011 sind bislang fast | |
11.500 Kinder im Alter von bis zu 17 Jahren getötet worden, heißt es in | |
einer kürzlich von der britischen Oxford Research Group veröffentlichten | |
Studie. „Das Verstörendste ist nicht allein die Zahl der getöteten Kinder, | |
sondern wie sie starben“, sagt Hamit Dardagan, einer der Autoren der | |
Untersuchung. So seien sie „in ihren Wohnungen und Gemeinden mitten im | |
Alltag bombardiert“ worden, etwa „beim Warten auf Brot oder in der Schule�… | |
„Alle Flüchtlinge, die wir hier betreuen, haben Gewalt erlebt oder gesehen, | |
wie Ihre Eltern oder Bekannte dieser ausgesetzt waren. Sie haben Albträume, | |
weinen plötzlich los oder haben so wie Achmed ihre Sprache verloren“, sagt | |
Makhlauf. Die füllige Frau mit braunen langen Haaren trägt eine Kette mit | |
einem schlichten Anhänger, auf dem „Jesus“ steht. In manchen Schlafsälen, | |
wo die Betten dicht an dicht stehen, breche in den Nächten Panik aus. Wenn | |
im Dunkeln die Erinnerungen wiederkommen, vom Krieg und der Flucht, Ängste | |
vor der ungewissen Zukunft, dann wachten manche Kinder schreiend auf. | |
Es sind Träume von Leichen, Dreck und Hunger. Es sind Bilder, die das | |
Fernsehen im Westen oft zeigt. Wenn man es nicht selbst erlebt hat, gewöhnt | |
man sich daran. „Donor Fatigue“ – Spendenmüdigkeit – heißt es im Jarg… | |
Hilfsorganisationen: Viele Menschen sind es leid, ihr Geld nach Syrien zu | |
schicken, wo die Lage immer unübersichtlicher wird. | |
Sogar dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR gehen die | |
Gelder aus. „Wir haben in den letzten Monaten nur 38 Prozent der nötigen | |
1,7 Milliarden für die Grundbedürfnisse der Flüchtlinge gehabt. Deshalb | |
müssen wir mit unserer Hilfe auf die Schwächsten zielen“, sagt Roberta | |
Russo vom Hilfswerk im Libanon. | |
## Überrollt vom Flüchtlingsstrom | |
Mehr als 2,3 Millionen Menschen sind aus Syrien geflohen, die meisten von | |
ihnen in den Libanon, nach Jordanien, in die Türkei und nach Ägypten. | |
Mindestens weitere 4 Millionen Menschen sind Vertriebene innerhalb Syriens. | |
Durch die Flüchtlingskatastrophe gerät der Libanon zunehmend selbst aus dem | |
Gleichgewicht. | |
Denn das Land mit nur 4,4 Millionen Einwohnern hat nach Schätzungen der | |
Behörden 1,4 Millionen Syrer aufgenommen. Es gibt Orte, die mittlerweile | |
doppelt so viele Einwohner haben sollen wie noch vor einem Jahr. Immer mehr | |
Menschen im Libanon, der ohnehin geprägt ist von vielen Ethnien, | |
Konfessionen und entsprechenden Konflikten, fühlen sich vom | |
Flüchtlingsstrom schlicht überrollt. Die anhaltenden Spannungen riefen | |
Menschenrechtsaktivisten auf den Plan, die im Sommer ein Transparent von | |
einer Brücke in Beirut entrollten, auf dem zu lesen war: „Entschuldigt das | |
Verhalten der Rassisten unter uns.“ | |
Hinzu kommen die eigenen politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten: | |
Seit März 2013 wird das Land von einer Übergangsregierung gelenkt, jeder | |
dritte Libanese zwischen 15 und 24 ist arbeitslos. Und in dieser Situation | |
drängen auch noch hunderttausende Syrer auf den libanesischen Arbeitsmarkt. | |
In solchen Zeiten bekommt auch eine Zuflucht für heimatlose Kinder Ärger. | |
Sozialarbeiterin Makhlauf geht über den Fußballplatz des Home of Hope, der | |
kleine Achmed tappst neben ihr her, um sie herum ein Gewirr aus | |
Kinderstimmen. Sie wirkt erschöpft. Sie macht sich Sorgen um das Geld – das | |
libanesische Sozialministerium zahlt umgerechnet 300 Euro monatlich pro | |
Kind. Aber es gibt auch Konflikte mit den Nachbarn. Makhlauf zeigt auf den | |
Zaun, den sie kürzlich bauen lassen mussten. | |
## Angst vor Kindern wie Achmad | |
Das Heim steht in einem christlichen Viertel, die meisten syrischen Kinder | |
sind Muslime. „Die Nachbarn werfen uns vor, wir würden ihre Mörder und die | |
Terroristen der Zukunft hier erziehen“, erzählt sie. Um Konflikten aus dem | |
Weg zu gehen, die Kinder zu schützen, haben sie nun eine Grenze gezogen. | |
Die Anwohner fürchten sich vor Kindern wie Achmed. | |
Da der Libanon kein Versorgungsnetz für Flüchtlinge anbietet, müssen sich | |
die Menschen selbst um Essen, Trinkwasser und ein Dach über dem Kopf | |
kümmern. Das erhöht auch den Druck auf die Kleinsten, zu arbeiten. Wer | |
durch Beirut läuft, sieht überall Flüchtlingskinder, die als fliegende | |
Händler Essen, Blumen oder Spielzeug verkaufen oder als Schuhputzer vor | |
Erwachsenen knien. | |
Yoka Brandt von Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, warnt | |
vor einer verlorenen Generation in Syrien. „Wenn wir ihnen jetzt nicht eine | |
Schulbildung geben, dann werden wir in einigen Jahren 16- oder 17-Jährige | |
ohne Ausbildung und ohne Aussicht auf Erwerbstätigkeit haben“, sagte sie. | |
Statt einer Bevölkerung, die beim Wiederaufbau des Landes helfen könne, | |
werde es eine Bevölkerung geben, die „aufgewachsen ist inmitten von Gewalt, | |
Konflikt und Hass“. | |
Voller Wucht trifft ein Ball den Kopf von Rita Makhlauf. Sie schaut | |
irritiert, erschrocken, kurz nur, fasst sich sogleich wieder. Ein Junge | |
rennt auf denjenigen los, der sie versehentlich getroffen hat, die beiden | |
schubsen sich, Makhlauf muss dazwischengehen. Erst nach einer halben Stunde | |
gelingt es ihr, die Streitenden zu beruhigen. „So ist das hier“, sagt sie | |
danach. „Probleme werden mit Gewalt gelöst, die Kinder kennen es doch nicht | |
anders.“ Sie presst ihre Lippen zusammen und schiebt hinterher: „Ich bin so | |
wütend, so unglaublich wütend. Die ganze Welt schaut zu, wie gemordet wird. | |
Als wären all diese Menschen, all diese Kinder nicht wichtig.“ | |
## Warten. Worauf? | |
Nur 90 Kilometer entfernt, hinter den Gipfeln des Libanongebirges, geht der | |
syrische Bürgerkrieg weiter. Zwar sollen alle Chemiewaffen unter Verschluss | |
sein, doch fast drei Jahre nach dem Beginn des Konflikts ist kein Frieden | |
in Sicht. | |
Für den dreijährigen Achmed ist es vielleicht auch gar nicht so | |
entscheidend, wann der Wahnsinn enden wird. Niemand weiß, ob seine Eltern | |
noch leben oder er weitere Verwandte hat, die sich um ihn und seine | |
Geschwister kümmern könnten. Rita Makhlauf betupft mit einem Taschentuch | |
ihre Augen. Das Sprechen fällt ihr jetzt schwer, ihre Stimme bricht. Sie | |
weiß nicht, worauf sie eigentlich wartet. „Wohin sollen wir unsere Kinder | |
nach dem Krieg schicken, wenn sie niemand abholt?“, fragt sie und dreht | |
sich weg. Ihre Tränen soll niemand sehen. | |
30 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
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