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# taz.de -- Die Folgen von Fukushima: Namie muss sich selber helfen
> Eine Gemeinde in der Nähe des AKWs Fukushima Daichi dokumentiert die
> Folgen der Verstrahlung in Eigenregie. Den Behörden trauen viele nicht
> mehr.
Bild: Ein Boot in Namie. Immer noch dort, wo es der Tsunami vor drei Jahren hin…
NAMIE taz | Wenn Minako Fujiwara von ihrem kleinen Hund erzählt, wird sie
traurig: Das Tier ist im vergangenen Juni gestorben. „Ihm sind die Haare am
Hals ausgefallen, und die Haut hat sich dort schwarz verfärbt“, erinnert
sich die 56-Jährige. Die Symptome deuten auf radioaktive Verstrahlung: Als
die Familie nach der Fukushima-Katastrophe aus dem Ort Namie neun Kilometer
nördlich des Atomkraftwerks evakuiert wurde, hat sie das Tier zunächst
zurückgelassen.
Die eigene Strahlenbelastung verdrängt Fujiwara: „Ich kann keinen Einfluss
spüren.“ Zwar leidet die Japanerin unter hohem Blutdruck, „aber das ist
wohl Stress“, sagt sie. Ihr Hausarzt Shunji Sekine ist skeptischer. „Die
innere Verstrahlung ist ein großes Problem“, meint der Mediziner. Vor allem
Kinder und Teenager seien durch die Aufnahme von radioaktivem Jod in ihre
wachsende Schilddrüse gefährdet. „Bisher fehlen größere Studien, aber ich
sehe einen Zusammenhang zwischen dem Atomunfall und Krebsfällen.“
Der 71-Jährige kennt sich aus. Er arbeitete früher als Spezialist für
Schilddrüsen- und Brustkrebs am Universitätskrankenhaus der Stadt
Fukushima. Seit über zwei Jahren betreibt er seine Praxis in Nihonmatsu
nahe Fukushima am Rande einer behelfsmäßigen Containersiedlung für 230
Familien aus Namie. Weite Teile der Stadt sind immer noch so verstrahlt,
dass der Zugang nur stundenweise erlaubt ist, vor 9 Uhr und nach 16 Uhr
darf niemand dorthin.
Laut offiziellen Angaben von Anfang Februar wurden bei 254.000 untersuchten
Fukushima-Bewohnern, die zum Zeitpunkt der Katastrophe jünger als 18 Jahre
waren, 75-mal eine veränderte Schilddrüse gefunden; darunter gab es 33
Krebsfälle. Das entspricht 13 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner. Der
weltweite Durchschnittswert für alle Altersgruppen beträgt 2,7.
Dennoch bestreitet die Präfektur Fukushima, dass es sich um eine Auswirkung
der AKW-Unfälle handelt. Der Vorsitzende des Komitees für Strahlenfolgen,
Hokuto Hoshi, erklärte, in Tschernobyl seien die Zahl der Krebsfälle erst
vier bis fünf Jahre nach der Reaktorexplosion von 1986 gestiegen. Mediziner
Sekine ist anderer Meinung: „Für meinen Geschmack gibt es einfach zu viele
Fälle.“ Informationen darüber, wie lange die Erkrankten in wie stark
verstrahltem Gebiet waren, verweigert ihm die Präfektur jedoch unter
Verweis auf den Datenschutz.
## Späte Evakuierung
Staatliche Verdunklung ist für die Bewohner von Namie nichts Neues. Während
Gemeinden im 5-Kilometer-Umkreis um die Atomanlage bereits am Tag nach dem
Tsunami evakuiert wurden, ließ man die Bewohner von Namie lange im
Unklaren.
Erst nach der Explosion in Reaktor 2 am Morgen des 15. März kam der Befehl
zur Evakuierung in Richtung Nordwesten. Die Flüchtlinge fuhren genau in die
unsichtbare radioaktive Wolke hinein. Aus Computerprognosen wussten die
Beamten in Tokio um die Gefahr, doch sie schwiegen. Vier Tage blieben die
Evakuierten in dem Ort Tsushima, der höher verstrahlt war als Namie.
Nach dieser Erfahrung beobachtet die Gemeinde die Folgen der Verstrahlung
nun in Eigenregie: „Wir wollen die Kontrolle über die Gesundheit unserer
Einwohner behalten“, erklärt Gesundheitsreferent Norio Konno. Auf eigene
Kosten hat Namie einen Ganzkörperscanner angeschafft, der in der
Containersiedlung in Nihonmatsu steht. Von Staats wegen werden unter
20-Jährige alle zwei Jahre und unter 40-Jährige alle fünf Jahre an der
Schilddrüse untersucht. Die Gemeinde bietet einen zusätzlichen
Jahres-Check-up für alle unter 40-Jährigen an.
Jeder zweite Bewohner von Namie nimmt diese Extrauntersuchung wahr. Aber
viele vermeiden es, der Gefahr ins Auge zu sehen. „Meine Tochter will ihre
Schilddrüse nicht untersuchen lassen“, erzählt die andere Angestellte,
Kazue Yamagi. Die damals 18-Jährige meidet seit dem Atomunfall alle
TV-Nachrichten und ist aus Fukushima weggezogen. „Sie sagt, sie will nicht
heiraten, weil sie als Strahlenopfer keine Zukunft hat“, sagt ihre Mutter.
So abwegig ist der Gedanke nicht. Die Hibakusha, wie die Opfer der
Atombomben von Hiroshima und Nagasaki heißen, grenzt man bis heute aus.
„Auch die Leute von Namie fühlen sich wie Hibakusha“, erregt sich
Gesundheitschef Konno, selbst wenn die Strahlenmenge niedriger sei als in
Tschernobyl: „Die verstrahlten Gene werden noch über Generationen vererbt.“
## Alle tragen Dosimeter
Konno hat die gleichen Strahlenpässe verteilt, die auch in Hiroshima und
Nagasaki benutzt werden. In dem Pass erinnert etwa eine Spalte für
Krebsvorsorge an die Untersuchung auf Leukämie. Blutkrebs ist eine häufige
Krankheit unter den „Hibakusha“. Nach dem Vorbild von Hiroshima und
Nagasaki fordert Namie auch für die Fukushima-Opfer ein
Unterstützungsgesetz.
Außer dem Ort Futaba denkt keine Gemeinde so konsequent. Namie lässt sogar
die Daten der Dosimeter, die alle Evakuierten mit sich tragen, alle drei
Monate auslesen und in einem eigenen Register speichern. „Falls wir von
Tepco Entschädigung verlangen müssen, brauchen wir gerichtsfeste Belege“,
erklärt Konno.
Doch bis heute ist Namie ohne offizielle Hilfe. Nur Strahlenexperte Shinji
Tokonami berät die Verwaltung. Der Professor der Universität Hirosaki half
bei der Evakuierung und registrierte damals auf den Dosimetern seiner
Kollegen „extrem hohe“ Strahlenwerte. „Unmittelbar nach der Katastrophe g…
es nur Schweigen, niemand hat etwas unternommen“, sagt Tokonami.
Bei den wenigen amtlichen Messungen direkt nach dem Unglück wurde als
höchste innere Belastung 33 Millisievert ermittelt – in Tschernobyl war die
Durchschnittsdosis 500 Millisievert. Dennoch hat die Stadtverwaltung Angst
um die Kinder. Unter 3.200 untersuchten jungen Leuten aus Namie habe es
zwei Krebsfälle gegeben, berichtet Konno. Das wäre 18-mal soviel wie im
europäischen Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.
Die Zahl der Krebsfälle hat auch den Experten Tokonami überrascht: „Das ist
höher als erwartet“, sagt er nachdenklich. Möglicherweise liege dies aber
an der großen Präzision der Scanner. „Nach nur drei Jahren können wir als
Forscher keine eindeutige Aussage treffen, ob diese niedrigen
Strahlenmengen Krebs ausgelöst haben“, betont er. Inzwischen finanziert die
japanische Regierung Studien über die Auswirkungen niedriger Strahlung etwa
in Gebieten mit hoher Radonbelastung in Indien.
Doch eine eigene These hat Tokonami bereits jetzt: Eigentlich müsse es
sogar noch mehr Fälle von Schilddrüsenkrebs geben, als sie bisher
auftraten, sagt er. Die Küstenbewohner äßen aber viel jodhaltigen Seetang.
Deshalb sei in den Schilddrüsen vieler junger Leute nur wenig Platz für das
strahlende Jod gewesen, das die Atomanlage über Fukushima schleuderte.
10 Mar 2014
## AUTOREN
Martin Fritz
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