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# taz.de -- Von Klopp erreicht, von Guardiola überholt: Das Prinzip Löw
> Was kann man von der WM in Brasilien erwarten? Weder Analogien zwischen
> Kicken und Politik noch einen deutschen Titel.
Bild: Ein moderner Fußballer sucht seine Form: Bastian Schweinsteiger in Brasi…
Brasilien ist das Land, in dem der Fußball eine Diktatur zu Fall gebracht
hat. Oder zumindest das Land, in dem 1985 mit dem politischen Fußballer
Sócrates und seiner Demokratiebewegung in den Stadien dazu beigetragen hat.
Das sollte man auch dann nicht vergessen, wenn man die beliebten Analogien
zwischen Politik und Fußball verwirft. Aber das war reales Engagement von
Fußballern. Die Analogien hingegen sind der Versuch, aus dem einen Bereich
etwas für den anderen abzuleiten.
Das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil der Fußball tatsächlich
internationalisiert ist oder genauer gesagt: europäisiert. Es gibt keine
nationalen Tugenden, jedenfalls keine erfolgreichen. Es gibt nur einen
internationalisierten Spitzenfußball, der vom Innovations- und Arbeitsmarkt
Europa definiert wird und zu dessen Kanon neben Strategie, Wissenschaft und
individueller Klasse auch die Mentalität gehört. Der Weltmeister
präsentiert schlicht den besten Brand dieses internationalen
Spitzenfußballs. Oder hat im richtigen Moment Glück gehabt.
Was Deutschland angeht, so unterscheiden sich Politik und Gesellschaft auf
der einen und der Fußball auf der anderen Seite diametral. Hier dominiert
Statuswahrung, Ängstlichkeit und Larmoyanz, dort gab es in den letzten
Jahren Innovation, Risiko und Spielfreude. Und Erfolg. Weshalb auch das
Bedürfnis der Gesellschaft, Anteil zu nehmen (und zu haben), extrem groß
war. Vor dem Auftakt der WM in Brasilien scheint die Identifikation mit dem
Team deutlich geringer zu sein als 2012, was sich an den niedrigeren
Ansprüchen erkennen lässt.
Es ist auch auffällig, wie viele Fachkollegen die in der Regel trost-,
niveau- und schamlose Jagd auf den Sündenbock bereits eröffnet haben.
Bundestrainer Joachim Löw wird in aktuellen Porträts selbst im kicker als
wirr, abgehoben und nicht mehr teamfähig dargestellt. Entweder die
Porträtierenden sind wirklich nah dran – oder sie bringen sich mit
handelsüblichem Meuten-Opportunismus schon mal in Sicherheit. Um bei Erfolg
ganz schnell wieder in der Siegerecke zu stehen.
## Distanz halten
Es ist simple Psychologie: Je weniger man dem Team zutraut, desto mehr
Distanz hält man. Die Sache kippte mit dem Aus im letzten EM-Halbfinale:
Davor waren WIR noch auf dem Weg zum Titel, danach hatte Löw es allein
verbockt. Und das Unterbewusstsein sprach: Aha. War wohl doch nichts mit
dem Aufbruch. Hätte man gleich bei seinem alten Stiefel bleiben können.
Hätte man nicht. Löw hat die Nationalmannschaft seit seiner Amtsübernahme
im Sommer 2006 transformiert und auf ein nie zuvor erreichtes Niveau
geführt. Wir spielen erstmals nachhaltig und systematisch modernen,
attraktiven und zudem erfolgreichen Fußball: Während etwa Franz Beckenbauer
die – gewonnene – WM 1990 erst in letzter Sekunde durch einen Glücksschuss
von Häßler erreichte, hat Löw 19 der letzten 20 Qualifikationsspiele
gewonnen. (Aber herumgehackt wird auf dem zwanzigsten, dem spektakulären
4:4 gegen Schweden.)
Die Diskussionen der letzten Wochen im Land waren tendenziell
pessimistisch: Wer alles verletzt ist, woran es hapert (an Abwehr, Angriff,
Führerschein und Vorbildfunktion) und ob der Ballbesitzfußball überhaupt
Zukunft hat. Kurzum: Die üblichen Gaga-Diskurse dominierten. Wie in der
Politik auch.
Die wirkliche Frage ist aber auch gestellt. Man muss sie nur aus der bunten
Aufregungsoberfläche herauskratzen. Sie lautet für alle Teams gleich: Wie
bekommt man die richtige Balance zwischen Ballbesitz- und Umschaltfußball
hin – unter den herrschenden, diversen Wetterverhältnissen? Weder kann man
den von Löw und Guardiola favorisierten Ballbesitzfußball mit hochstehender
Defensive so durchziehen wie sonst, noch ein aggressives Dauerpressing, wie
es Jürgen Klopps Borussia Dortmund oder Atlético Madrid exerzieren. Wobei
Klopp nicht nur für Pressen steht, sondern auch für schnelles und damit
riskanteres Umschaltspiel, als es Teams mit Ballbesitzpriorität zu tun
pflegen.
## Löw, Klopp, Guardiola
Der Bundestrainer definierte einige Jahre die fußballerische Moderne in
Deutschland und wurde erst von Klopp erreicht, dann von Guardiola überholt.
Zeitweise kamen die Bayern-Spieler zu ihm und durften sich beim DFB
internationalisieren. Das hat sich erkennbar verändert.
Während Löw 2012 tendenziell noch eher Bayern-Spieler Richtung Dortmund
umschulte und Dortmunder Richtung Löw, hat er im letzten Jahr sein
Guardiola-Faible gepflegt und sich mehrfach Richtung Bayern orientiert,
etwa mit dem Ballbesitzfußballer Philipp Lahm in defensiven Mittelfeld,
einem Tempodribbler als Sturmspitze oder nun mit der Erwägung der Variante
einer Dreierabwehr.
Wobei Guardiola sich eben auch verändert und Klopp-Elemente in seinen Stil
aufgenommen hat. Auch wenn manche ihn kritisch sehen wegen des Ausscheidens
gegen Real im Halbfinale der Champions League: Es war doch bis zur Halbzeit
des Hinspiels im Bernabeu die große, neue Qualität der Bayern, dass der
Gegner kaum einmal länger als ein paar Sekunden den Ball hatte.
Dies alles berücksichtigend und eben auch angesichts der klimatischen
Situation wundert es nicht, dass Löw von einem seiner Großdogmen abweicht
und dem Spieleröffner Mats Hummels tatsächlich erlaubt, ab und zu auch
einen Flugball zu spielen. Oder sein Team phasenweise tiefer verteidigen
lässt. Oder den Ballbesitz als Erholungsphase integriert.
## Regenerativer Ballbesitz
Überhaupt: Die Frage der Portionierung des regenerativen Ballbesitzes – ein
Markenzeichen von Guardiolas altem FC Barcelona – dürfte eine ganz
entscheidende Rolle spielen. Überlässt man den Ball den anderen und wartet
auf deren Fehler, so wie es die Niederländer beim 5:1 über Spanien perfekt
vormachten?
Oder behält man die Kugel und setzt Ballbesitz als Mittel zur Zermürbung
und Demoralisierung des Gegners ein, der so lange hinterherhechelt, bis
auch dem größten Anhänger des Gegen-den-Ball-Spiels der Spaß vergangen ist.
Wobei noch längst nicht gesagt ist, dass man tatsächlich verallgemeinern
kann, dass „die Südamerikaner“ mit den Verhältnissen besser zurechtkommen.
Fast alle Brasilianer (bis auf zwei Stürmer und zwei Ersatztorhüter) und
auch Argentinier und praktisch alle Weltklassefußballer leben und arbeiten
in Europa. Und das teilweise seit vielen Jahren. Mag sein, dass sie in der
Vergangenheit einen hitzeangepassteren Fußballstil hatten als Europäer. Das
wäre nur ein Beleg, dass die Dosierung entscheiden wird – und nicht die
Herkunft.
Was Löw angeht, so muss er darüber hinaus auch die perfekte Dosierung
zwischen den Modellen Bayern und Dortmund hinbekommen. Es handelt sich,
wenn man so will, um eine Große Koalition, aber auch die hat mit der
realexistierenden politischen nichts gemein. Es geht nicht um den kleinsten
gemeinsamen Nenner. Sondern um best of both worlds, um Komplementarität in
Team und Kader.
## „Bock auf Defensive“
Löw muss etwas schaffen, das er bisher nicht hinbekommen hat. Er muss die
Dortmunder Begeisterung für das Spiel gegen den Ball auf die
Nationalmannschaft übertragen, den „Bock auf Defensive“, wie Mats Hummels
das nennt. Was nicht unmöglich ist, da Guardiola sie auf den FC Bayern
übertragen hat.
Mit der Gegentorquote der letzten Turniere und des letzten Jahres kann man
jedenfalls definitiv nicht Weltmeister werden. Es geht auch nicht (nur) um
die Innenverteidigung oder die Anzahl der gelernten Innenverteidiger im
Team. Es geht um eine grundsätzliche Rejustierung der Defensive und eine
neue Ausbalancierung mit Löws geliebtem Offensivspiel.
Und dann geht es doch auch um eine entscheidende Personalie, und das ist
Bastian Schweinsteiger. Der Mann hat über 100 Länderspiele, aber in den
letzten beiden Saisons hat er gerade noch sechs bestritten, das letzte Tor
liegt Jahre zurück und leider auch der Moment, an dem er einmal wirklich
gesund und fit war.
Schweinsteiger ist die Personifikation einer Generation, zu der auch Lahm,
Podolski, Mertesacker und Klose gehören und die aus den Trümmern von Rudi
Völler über Jürgen Klinsmanns radikalem Neuanfang zu Löws nachhaltigem
Spektakelfußball etwas geschafft hat, was nur wenige schaffen: nicht nur
ein Versprechen zu sein, sondern ein eingelöstes Versprechen.
## Protagonist Schweinsteiger
Er ist der emotionale Protagonist eines Teams, das mehr geschafft hat, als
die Weltmeister von 1954 und 1990: nachhaltig guten und manchmal großen
Fußball zu spielen. Seit 2006. Nicht immer. Aber öfter als alle anderen,
sogar als die Goldene Generation von 1972/74.
Die einzige Frage, die auch 2014 für Löw und eine Mannschaft gelten sollte,
lautet nicht, ob sie Weltmeister werden, sondern: Wie spielen sie? Können
sie sich und uns Momente des Rauschhaften bescheren? Und wirken die sich
dann produktiv auf den Turnierverlauf aus und gehen ein in die kollektive
Erinnerung wie 2006 (1:0 gegen Polen, 3:0 gegen Schweden) und 2010 (4:1
gegen England, 4:0 gegen Argentinien)?
Doch während es bei Kapitän Lahm klar ist, dass er auf der absoluten Höhe
agiert, und bei Podolski trotz steigender Form, dass er es nicht tut, gibt
es im Falle von Schweinsteiger in diesem Moment nur ein Bauchgefühl. Und
das ist nicht gut.
16 Jun 2014
## AUTOREN
Peter Unfried
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