# taz.de -- Debatte „Sichere Herkunftsländer“: Lösung nur auf dem Papier | |
> Der Gesetzentwurf ist so gut wie durch. Er wirkt effektiv, doch | |
> verschweigt viel mehr. Und die Frage bleibt: Wer hat unveräußerliche | |
> Rechte? | |
Bild: Schirm mit Slogan bei Protesten in Berlin-Kreuzberg | |
Kurz vor der Sommerpause des Bundestags wurde in letzter Minute der | |
Gesetzentwurf zu den sicheren Herkunftsländern durch das Parlament | |
gepeitscht. Das Gesetz sieht vor, Personen aus dem Westbalkan (gemeint sind | |
die Länder Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien) den Weg ins | |
Asylverfahren endgültig abzuschneiden, indem ihre Länder als per se | |
„sicher“ eingestuft werden. | |
Im Bundesrat könnten die Grünen ihre Zustimmung versagen, so dass der | |
Vermittlungsausschuss anzurufen wäre und das Ergebnis des | |
Gesetzgebungsverfahrens ungewiss, jedenfalls erheblich länger und | |
komplizierter würde. Dem Vernehmen nach haben die Grünen das aber gar nicht | |
vor. | |
Stattdessen wollen sie ihre Zustimmung so teuer wie möglich verkaufen. Eine | |
politische Kosten-Nutzen-Rechnung: Hier die Zustimmung im Bundesrat, im | |
Gegenzug ein paar rechtliche Veränderungen zugunsten von Flüchtlingen in | |
anderen Bereichen. | |
Warum will die Regierungskoalition das Gesetz so schnell verabschieden? Es | |
wird sich nämlich nicht, wie behauptet, auf die Fluchtbewegungen auswirken. | |
Anders als die Sanktionsmechanismen gegen zum Gehen Entschlossene, die die | |
serbische Regierung auf Druck aus Brüssel gegen die eigenen | |
Staatsangehörigen eingeführt hat. | |
## Komplexe Fluchtgründe | |
Das Gesetz ist auf einer anderen Ebene effektiv, denn es vermittelt im | |
komplexen Feld der Fragen von Asyl und Flüchtlingen klare Botschaften: | |
Problem erkannt, analysiert und gelöst. Die steigenden Zahlen im Bereich | |
Asyl gingen auf missbräuchliche Anträge von Armutsflüchtlingen zurück, was | |
durch die Gesetzesänderung nun unterbunden würde. Behauptetes Ergebnis: | |
Viel weniger Menschen kommen. Und die Wenigen, die kommen, können schneller | |
abgeschoben werden und kosten auch weniger. Wen kümmert es da, wenn diese | |
„Lösung“ nur auf dem Papier existiert? | |
Verschwiegen wird, dass die als Fluchtgrund ins Feld geführte „Armut“ eine | |
strukturelle Verletzung elementarster Menschenrechte für Roma im Westbalkan | |
bedeutet, begleitet von einer diskriminierenden und rassistischen Praxis. | |
Pro Asyl und andere haben die Situation der Roma in den drei Ländern | |
eindringlich beschrieben: Die Kindersterblichkeit bei Roma ist mehr als | |
doppelt so hoch im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Diskriminierung und | |
Ausgrenzung schlagen teilweise in Lebensgefahr um. | |
Die Verwehrung des Zugangs zu sauberem Trinkwasser, zu Bildung, zu | |
medizinischer Versorgung und die Zwangsräumung von Siedlungen sind als eine | |
asylrechtlich relevante kumulative Verfolgung zu verstehen. Diese | |
Fluchtgründe müssen in einem sorgfältigen Verfahren geprüft werden. Genau | |
dieses Verfahren wird durch die gesetzliche Festschreibung der drei Staaten | |
als „sicher“ pauschal für alle verhindert. | |
Unabhängig davon, dass bereits Darstellung und Analyse der Situation im | |
Westbalkan und der Asylverfahren in Deutschland zu kurz greifen und in | |
weiten Teilen falsch sind, geht es um die grundsätzliche Frage, ob auch | |
Roma aus dem Westbalkan das volle Recht haben, Rechte zu haben. Es geht | |
darum, ob auch sie einen unbeschränkten, rechtlich abgesicherten und damit | |
effektiven Zugang zum Recht erhalten. Hier und dort. | |
## Altes Argumentationsmuster | |
Auf der europäischen Ebene sehen wir ein vergleichbares | |
Argumentationsmuster: Auch hier sind es angeblich zu viele, die nach Europa | |
wollen. Da die Ursachenanalyse sich im Wesentlichen auf die Schleuser | |
konzentriert, besteht die Lösung folgerichtig in der Aufrüstung der | |
europäischen Grenzsicherung im Rahmen von Eurosur (European Border | |
Surveillance System), das am 2. Dezember 2013 startete und in unmittelbarer | |
Reaktion auf die Katastrophe in Lampedusa verabschiedet wurde. Damals | |
ertranken über 300 Menschen vor der italienischen Insel. | |
Mit der Entrüstung über unverantwortliche Schleuser konnte diese und können | |
die noch folgenden Tragödien von Lampedusa, in der Ägäis oder anderswo an | |
den europäischen Außengrenzen bearbeitet werden, ohne sich jemals dem | |
eigentlichen Thema zu stellen: Wie können die Flüchtlinge Europa überhaupt | |
erreichen? | |
Warum gibt es keine Asyl-Visa, sichere Korridore nach Europa? Warum sehen | |
sich diejenigen, die es überhaupt nach Europa schaffen, mit dem | |
„Verschiebebahnhof Europa“ (Pro Asyl) konfrontiert? Italien hat 2014 über | |
80.000 Flüchtlinge aufgenommen. Ein Großteil wird wegen Perspektivlosigkeit | |
in andere europäische Länder weiterreisen. Diese wiederum werden versuchen, | |
die Menschen in die Staaten der EU abzuschieben, in denen sie zuerst | |
ankamen. | |
## Dublin und Defizit | |
Niedergelegt ist dieses Prinzip in der Dublin-III-Verordnung. Allerdings | |
kann schon aus Defiziten im Verwaltungsvollzug über die Hälfte der | |
innereuropäischen Abschiebungen nicht vollzogen werden. | |
In anderen europäischen Ländern sieht es nicht anders aus. Allerdings geben | |
viele Verwaltungsgerichte den Flüchtlingen recht, in dem sie die Verletzung | |
menschen- und europarechtlicher Standards feststellen. Es ist klar, das | |
Dublin-System funktioniert nicht. Daran hat auch die jüngste Reform vom | |
Sommer 2013 nichts geändert. Und auch das Gesetz zu den sicheren | |
Herkunftsländern wird die Menschen nicht daran hindern, zu gehen. | |
## Zwei zentrale Fragen | |
Den Grünen sollte klar sein, dass es bei ihrer Zustimmung zum Gesetz über | |
die sicheren Herkunftsländer um zwei zentrale Fragen geht. Erstens, ob | |
Gesetze auf Grundlage einer unzutreffenden Analyse und Begründung – | |
Organisationen wie Pro Asyl und Amnesty International haben die Mängel | |
ausführlich dargelegt – zu verabschieden sind. Zweitens und entscheidend: | |
ob auch Flüchtlinge Rechtssubjekte mit unveräußerlichen Rechten sind. Das | |
„Recht, Rechte zu haben“ (Hannah Arendt), der Zugang zum Recht darf nicht | |
eingeschränkt werden. Dafür kann es weder auf nationaler noch auf | |
europäischer Ebene eine Rechtfertigung geben. Diese Botschaft muss | |
politisch offensiv und kompromisslos vertreten werden. | |
In der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule und auf dem Oranienplatz in | |
Berlin-Kreuzberg sagen sie dazu: „My right is your right.“ | |
22 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Berenice Böhlo | |
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