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# taz.de -- Flüchtlingstherapeut über Asyldebatte: Eine Chance für mehr Mens…
> Dietrich F. Koch betreut seit 25 Jahren Folteropfer. Er sagt, es sei gut,
> dass sich die Menschen nicht mehr still in ihr Leiden zurückziehen
> müssen.
Bild: Proteste für mehr Schutz von Flüchtlingen in Berlin.
taz: Herr Koch, die Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin wurde nicht geräumt,
und die Flüchtlinge dürfen vorerst in einem Teil der Schule bleiben. Wie
finden Sie das?
Dietrich F. Koch: Ich bin erleichtert, denn ich hatte große Sorge, dass die
Situation eskaliert.
Es wurde kritisiert, dass die Flüchtlinge den Zugang zum Dach behalten
konnten. Da Berlins Innensenator Henkel bislang kein Aufenthaltsrecht
erteilen will, wäre es absehbar, wann sie erneut damit drohten zu springen.
Wie suizidgefährdet sind diese Aktivisten?
Das ist von Fall zu Fall verschieden. Aber ich habe dort Menschen
getroffen, die enorme Verluste erlitten haben, die durch die Hölle gegangen
sind. Manche von ihnen sind bereits seit fünf Jahren auf der Straße, weil
sie versuchen, in einem europäischen Land Fuß zu fassen, was ihnen
verweigert wird. Für diese Menschen gibt es nichts mehr zu verlieren.
Ich denke, dass einige aus der Gruppe jeden Tag mit dem Suizidgedanken zu
kämpfen haben. Hinzu kommt: Die Aktivisten haben sehr stark darauf
vertraut, dass das Wort der Senatorin für Integration gilt. Sie waren sich
nicht darüber im Klaren, wer da noch mitzureden hat.
Stattdessen hat Frau Kolat ihr Wort gebrochen, und die Flüchtlinge vom
Oranienplatz erhalten Abschiebebescheide.
Mit solchen Schuldzuweisungen wäre ich vorsichtig. Frau Kolat ist die erste
Sozialpolitikerin, die sich des Themas annimmt und mit dem Innenminister
streitet. Das Problem ist ja, dass Flüchtlingspolitik, ob auf europäischer,
nationaler oder kommunaler Ebene, immer die Sache der Ordnungspolitiker
ist. Es wird nicht als soziales Problem gesehen.
Doch wir brauchen noch viel mehr Sozialpolitiker, die sich mit dem
Asylrecht und der Migration beschäftigen. Und wir brauchen die
Innenverwaltungen. Denn wir brauchen eine menschliche Lösung. Wird die Not
der Flüchtenden zu sehr für den Streit zwischen den Parteien
instrumentalisiert, kann die Situation entgleiten.
Suizidgefährdung ist ein juristischer Grund für ein Abschiebestopp, es kann
auch ein Grund sein für die Erteilung des Aufenthaltsrechts.
Richtig.
Sie wurden eingeladen, die Flüchtlinge vom Oranienplatz zu betreuen, haben
aber gezögert, diesen Auftrag anzunehmen. Warum?
Wir arbeiten mit sehr begrenzten Ressourcen und sind nicht einmal in der
Lage, die besonders schutzbedürftigen Menschen zu versorgen, die Folter
erlebt haben oder unbegleitet als Minderjährige, aber ganz regulär in
Berlin Asyl beantragen. Wenn jemand eine Angststörung hat, also nicht
„normal“ auf eine Bedrohung zu reagieren vermag, dann gibt es nur eines:
Ich muss ihn herausnehmen aus der Situation, die ihm Angst macht.
Was macht den Leuten Angst?
Dass sie nicht wissen, was am nächsten Tag auf sie zukommt. Dass sie nicht
wissen, ob sie in ihr Heimatland zurückgeschickt werden oder in eine andere
Situation, die für sie wieder eine Katastrophe bedeutet. In dieser Angst
kann man die Menschen nicht nachhaltig behandeln, also versuchen wir denen
zu helfen, denen wir auch helfen können.
Dann haben Sie sich doch entschlossen, auch Aktivisten vom Oranienplatz zu
betreuen …
… weil wir den Eindruck hatten, dass es einen politischen Willen gibt, eine
Aufenthaltsperspektiven zu entwickeln. Wir haben uns auf ein Experiment
eingelassen. Deshalb ist es so wichtig, dass nun eine politische Lösung
gefunden wird.
Der Berliner Flüchtlingsrat und auch die Spezialistin für Aufenthaltsrecht,
die Anwältin Berenice Böhlo, kritisieren scharf, dass die Politik den
Medien gegenüber zwar sage, wir suchen eine Lösung, die Innenverwaltung
aber keine sorgsame oder gar wohlwollende Einzelfallprüfung vornimmt. Wie
nehmen Sie das wahr?
So ähnlich, auch wenn ich es nicht verallgemeinern würde. Für einige Fälle
haben wir eine gute Lösung gefunden. Bei vielen anderen jedoch wurde der
vorhandene rechtliche Spielraum nicht genutzt. Es ist auch vorgekommen,
dass ein Gutachten von mir bei der negativen Entscheidung mit keinem Wort
erwähnt wurde. Das geht natürlich nicht.
Gibt es eine Sensibilisierung in der Gesellschaft für die Not der Menschen
auf der Flucht?
Ich arbeite seit 25 Jahren als Therapeut unter anderem für Folteropfer und
bin seitdem auf der Seite einer qualifizierten Minderheit. Aber wir haben
jetzt in der Diskussion eine neue Qualität, das macht mich
zuversichtlicher. Flüchtlinge geben uns die Chance, wieder ein höheres Maß
an Menschlichkeit zu erreichen. Wir sollten sie nutzen.
Bei den Flüchtlingen aus Bosnien und Herzegowina hat Berlin damals
Aufenthalt gewährt.
Vor zehn rund zehn Jahren haben wir gute Erfahrungen gemacht mit der
Innenverwaltung. Es ging um etwa 3.000 Menschen. Jetzt geht es um rund 400.
Dass Menschen auf der Flucht laut werden und Forderungen stellen, ist etwas
Neues. Wie bewerten Sie diesen Protest?
Er ist sehr wichtig. Bislang haben sich die betroffenen Menschen still in
ihr Leid zurückgezogen. Und wir haben die Therapien jenseits der
Öffentlichkeit mit ihnen durchgestanden. Ihr Protest jetzt gibt uns als
Gesellschaft die Möglichkeit, uns wieder mit Menschenrechten zu
beschäftigen und die politischen Fehlentwicklungen in den letzten 25 Jahren
zu korrigieren.
Was sind die häufigsten Fehler, die nichtprofessionelle Unterstützer
machen?
Gelegentlich unterschätzen sie, dass Flüchtlinge unbedingt eine
Rechtsberatung brauchen. Das sollten Unterstützer organisieren. Und es ist
wichtig, sich darüber klar zu werden: Wenn Menschen verzweifelt sind, dann
steckt das auch an. Emotionen springen einfach über, das ist normal. Es
besteht daher die Gefahr, dass eine Stellvertretertraumatisierung
stattfindet.
Das bedeutet: Man wird von den Ängsten der anderen so eingenommen, dass man
nicht mehr souverän reagiert. Das muss fachlich begleitet werden. Da
brauchen Unterstützer möglicherweise selbst auch Hilfe. In Kreuzberg hat
sich dann auch zeitweise eine gewisse Panik breit gemacht. Weshalb ein
Kollege von mir diesen Prozess begleitet hat.
Wie schätzen Sie die Arbeit der Kirchen ein?
Die Arbeit der Kirche als Ganzes kann ich nicht beurteilen. Aber ich bin
heilfroh, dass es das Kirchenasyl gibt. Für uns ist es entscheidend, dass
wir Leute aus dem Schussfeld nehmen können, gerade wenn sie bei uns in
Therapie sind. Die Leute, mit denen ich bei der Kirche zusammenarbeite,
erlebe ich als sehr engagiert. Sie legen eine gesunde Widerständigkeit
gegen unmenschliche Entscheidungen an den Tag.
Was brauchen Menschen, die auf der Flucht sind, am dringendsten?
Ruhe. Sie haben Schreckliches erlebt, und sie brauchen Ruhe und Zeit, um
ihre Erfahrungen verarbeiten zu können. Deswegen sind Abschiebebescheide
oder Umverteilungsaktionen auf neue Heime und generell die
Orientierungslosigkeit, die gerade auch bei der Innenverwaltung herrscht,
für sie so schwer erträglich. Flüchtende brauchen Ruhe, Schutz und
Klarheit.
9 Jul 2014
## AUTOREN
Ines Kappert
## TAGS
Flüchtlinge
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