# taz.de -- Flüchtlingsanwältin zu Asylrecht: „Wort und Recht gebrochen“ | |
> Berenice Böhlo hält die Asylrechtsänderung des Bundestages für | |
> katastrophal. Die Situation der Flüchtlinge in Berlin-Kreuzberg sei | |
> äußerst prekär. | |
Bild: Ein Kind im Flur einer hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerb… | |
taz: Frau Böhlo, Sie sind Anwältin für Aufenthaltsrecht. Was bedeutet die | |
gerade vom Bundestag verabschiedete Verschärfung des Asylrechts für Ihre | |
Arbeit? | |
Berenice Böhlo: Das ist eine katastrophale Entscheidung. Es bedeutet einen | |
gravierenden Rollback im Flüchtlingsrecht. | |
Was ist schlimmer? Dass Bosnien und Herzegowina, Serbien und Mazedonien zu | |
sicheren Drittstaaten erklärt wurden oder die Ausweitung der Haftgründe für | |
Flüchtlinge? | |
Beides ist gleichermaßen desaströs. | |
Die Regierung verschärft das Asylrecht, andererseits haben die Proteste und | |
die Solidarität der Anwohner mit den Flüchtlingen bundesweit Schlagzeilen | |
gemacht. Ein Paradox? | |
Nicht wirklich. Die protestierenden Flüchtlinge in Berlin-Kreuzberg haben | |
ja nur scheinbar etwas erreicht. Sie dürfen vorerst in der | |
Gerhart-Hauptmann-Schule bleiben, doch der Innensenator Frank Henkel lehnt | |
es ab, ihnen das Bleiberecht zu erteilen. Doch genau darum geht es. | |
Den Medien gegenüber sagt die Berliner Politik, sie suche nach einer | |
Lösung. | |
Bei den Flüchtlingen vom Oranienplatz wurden klar das Wort und das Recht | |
gebrochen: Es gibt keinen Abschiebeschutz und auch keine Übernahme der | |
Zuständigkeit des Landes Berlin. In den nächsten Wochen wird die gesamte | |
Gruppe dieser Flüchtlinge Ablehnungsbescheide erhalten. Ähnliches dürfte | |
auch den Leuten aus der Schule drohen. | |
Wie kann das sein? | |
Es hängt an Frank Henkel. Er hat erklärt: Die Einigungspapiere haben für | |
ihn keine Gültigkeit. Und damit ist entgegen allen Absichtserklärungen, | |
auch seitens der SPD, klar: Es wird in allen Fällen eine Ablehnung ergehen. | |
Wie ist die rechtliche Situation? | |
Wenn ein Land etwa aus humanitären Gründen eine besondere Situation für | |
eine Gruppe von Menschen erkennt, kann es das Aufenthaltsrecht aussprechen. | |
Es braucht keine weiteren Voraussetzungen. Auf dieser Grundlage könnte sich | |
das Land Berlin an das Innenministerium wenden und um das Einverständnis | |
für einen Aufenthaltstitel nach Paragraf 23 bitten. Das wäre eine sehr | |
einfache Möglichkeit. Doch das will das Land Berlin explizit nicht tun. | |
Hat es Folgen, dass das Land Berlin den Flüchtlingsprotest in der Stadt | |
geduldet hat? | |
Ja. Der Protest wurde nicht nur geduldet, sondern auch eine Infrastruktur – | |
wie Toilettenhäuschen und Beratung durch die Integrationsbeauftragte, | |
Unterbringung in Heimen etc. – zur Verfügung gestellt. Dadurch entstehen | |
für das Land Pflichten, etwa dass es die Zuständigkeit übernimmt. Es | |
handelt sich hier nicht um Gnadenakte, sondern um eine rechtliche | |
Verpflichtung. | |
Doch ein Aufenthaltsrecht wurde nie versprochen? | |
Es wurde versprochen, nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen, und | |
dazu gehören das Bleiberecht oder Abschiebehindernisse oder | |
Abschiebeverbote, etwa aufgrund von Krankheiten oder Traumatisierungen. Es | |
gibt ein breites aufenthaltsrechtliches Instrumentarium. Das aber setzt | |
voraus, dass man sich die Fälle genau ansieht. | |
Wird der Senat auf die Flüchtlinge zugehen? | |
Das Innenleben des Senats ist mir ein Rätsel. Der Bürgermeister Klaus | |
Wowereit verkündet, dass es um eine Lösung geht, und schickt die | |
Integrationsbeauftragte zu den Flüchtlingen, um zu verhandeln. Gleichzeitig | |
sagt die Innenverwaltung, dass die Einigungspapiere nichts wert sind. Die | |
Flüchtlingsfrage wird zu einem internen Kräftemessen benutzt. Um die | |
betroffenen Menschen geht es dabei nie. | |
Wie wird es in Berlin-Kreuzberg weitergehen? | |
Das weiß niemand. Ob die Leute, die jetzt protestieren, tatsächlich in die | |
umgebaute Flüchtlingszentrum kommen, ist völlig offen. Das hat mir der | |
Bezirk genauso gesagt. Aber er sagt es nicht zu den Leuten selbst, sondern | |
hält sie im Ungewissen. Gegenüber den Medien wird der Eindruck erweckt, die | |
Betroffenen könnten mitbestimmen. De facto sind die Leute aber in einer | |
schlechteren Situation als vorher, denn es entsteht in der Öffentlichkeit | |
der Eindruck, es sei etwas für sie erreicht worden. Das aber ist nicht der | |
Fall. | |
Wie geht es den Betroffenen? | |
Es herrscht eine enorme Anspannung. Ich gehe ja auch in Gefängnisse, bin | |
also einiges gewöhnt. Aber dieser Druck, der auf den Leuten lastet, ist | |
selbst für mich ungewöhnlich. Auf das Dach zu gehen und mit Suizid zu | |
drohen war für diese Leute ein extrem defensiver Akt. Sie haben die | |
Verhandlungen am Oranienplatz mitbekommen und wussten, dass die erzielte | |
Einigung nichts wert ist. Was blieb ihnen also noch? Doch der Bezirk hat | |
dafür keinerlei Verständnis und spricht von Erpressung. Dabei hat er mit | |
der Räumungsandrohung die Flüchtenden erpresst. | |
Was ist jetzt zu tun? | |
Aus anwaltlicher Sicht müssen wir die Anträge bei der Ausländerbehörde | |
stellen und dafür sorgen, dass es tatsächlich zu einer sorgsamen Prüfung | |
der Einzelfälle kommt. | |
Und die nichtprofessionellen Unterstützer? | |
Sie sollten versuchen, das Thema in die Mitte der Gesellschaft zu tragen, | |
und Bündnisse schließen mit den Kirchen und den Gewerkschaften. Es ist gut, | |
dass etwa die evangelische Kirche in Berlin sich nun verstärkt zu | |
Flüchtlingen äußert. Es muss klar werden, dass es beim Aufenthaltsrecht* um | |
ein unveräußerliches Recht geht: um das Recht, Schutz zu suchen und zu | |
finden, also nicht irgendwo auf der Welt geboren zu sein und dort bleiben | |
zu müssen, egal wie die Bedingungen sind. Die Nationalstaaten haben hier | |
Handlungsspielraum. Auch wenn sie immer auf die Dublin-Regelung verweisen | |
und sagen, sie könnten nichts tun. | |
Können Sie ein Beispiel geben? | |
Nehmen wir Italien. Es wäre für Deutschland problemlos möglich, die | |
Abschiebung nach Italien für ein Jahr auszusetzen, bis sich die Situation | |
für Flüchtlinge dort verbessert hat. Das möchte man aber nicht, weil man | |
das politische Signal nicht will. | |
Noch können die Grünen die Aushöhlung des Asylrechts verhindern, wenn sie | |
im Bundesrat dagegen stimmen. | |
Das ist die letzte Chance. Es hängt jetzt an ihnen. | |
*korrigiert durch die Redaktion, 7.7.2014, 16:51 Uhr. | |
7 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Ines Kappert | |
## TAGS | |
Asylrecht | |
Flüchtlinge | |
Gerhart-Hauptmann-Schule | |
Bundestag | |
Flüchtlinge | |
Asylpolitik | |
Flüchtlinge | |
Flüchtlinge | |
Flüchtlinge | |
Grüne | |
Flüchtlinge | |
Asylrecht | |
Flüchtlinge | |
Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kritik an Senatorin Kolat: „Ich hätte mehr erwartet“ | |
Nach ihrem Einigungspapier zum Oranienplatz hat sich SPD-Senatorin Kolat | |
aus der Verantwortung gezogen, kritisiert Aziz Bozkurt vom | |
SPD-Landesvorstand. | |
Protest am Alexanderplatz: Flüchtlinge besetzen Fernsehturm | |
Rund 40 Menschen protestieren auf dem Berliner Fernsehturm gegen | |
Asylpolitik. Der Betreiber droht mit Räumung. | |
Protest von Flüchtlingen: „Wir erpressen niemanden“ | |
In Kreuzberg wollten sich Flüchtlinge vom Dach stürzen, in Nürnberg | |
stellten Asylsuchende jetzt das Trinken ein. Der Afghane Naquid Hakimi über | |
Suizid-Drohungen. | |
Flüchtlingstherapeut über Asyldebatte: Eine Chance für mehr Menschlichkeit | |
Dietrich F. Koch betreut seit 25 Jahren Folteropfer. Er sagt, es sei gut, | |
dass sich die Menschen nicht mehr still in ihr Leiden zurückziehen müssen. | |
Pro-Asyl-Chef über Asylgesetz-Reform: „Eine Hürde aus den 80er-Jahren“ | |
In Zukunft soll es Flüchtlingen erlaubt sein, schon nach drei Monaten zu | |
arbeiten. Für manche ändert sich damit nichts, sagt Bernd Mesovic. | |
Özdemir über Kreuzberger Flüchtlinge: „Das kapieren nicht alle“ | |
Der Grünen-Vorsitzende über bayerische Verhältnisse in Kreuzberg, die | |
Forderung nach Bleiberecht und Kapuzenträger in seinem Kiez. | |
Kommentar Flüchtlinge in Berlin: Sieg der Angst | |
Das Verhalten des Bezirks Kreuzberg zeigt: Grüne Solidarität mit | |
Flüchtlingen hat Grenzen. Die Forderung nach Bleiberecht geht vielen zu | |
weit. | |
Verschärfung des Asylrechts: Serbien gilt jetzt als sicher | |
Die Koalition hat beschlossen, dass drei Balkanstaaten ab sofort sichere | |
Herkunftsländer sind. Die rot-grün regierten Länder haben im Bundesrat | |
Widerstand angekündigt. | |
Flüchtlinge in Berlin-Kreuzberg: Im Niemandsland der Rechtsordnung | |
Der Ausnahmezustand als Normalfall: Warum ein Begriff des Philosophen | |
Giorgio Agamben die Lage in Berlin-Kreuzberg erfasst. | |
Kommentar Flüchtlingspolitik Grüne Berlin: Am eigenen Anspruch gescheitert | |
Ohne Unterlass betonen die Grünen ihre Unterstützung für die Ziele der | |
Flüchtlinge. Letztlich fehlt ihnen aber der Mut, die Konsequenzen daraus zu | |
ziehen. |