| # taz.de -- Unterstützung gegen Dschihadismus: „Ich hoffe, dass er zurückko… | |
| > Wenn der Sohn in den „Heiligen Krieg“ ziehen will, sind viele Eltern | |
| > überfordert. Die einzige Beratungsstelle für solche Fälle gibt es in | |
| > Bremen. | |
| Bild: Erst vor Kurzem nach Hamburg gezogen: der bekannte Salafist Pierre Vogel,… | |
| HAMBURG taz | „Sag meiner Familie, dass ich vier Wochen Urlaub in der | |
| Türkei mache“, schreibt Cem* einem Freund per SMS. Und: „Ich fahre in ein | |
| Trainingslager“. So hat Deniz* die letzte Nachricht seines Neffen aus | |
| Hamburg in Erinnerung. Kurz darauf fährt Cem mit dem Auto nach Österreich, | |
| fliegt weiter nach Istanbul. Dort verliert sich seine Spur. Der 23-Jährige | |
| hat sich der Terrororganisation Islamischer Staat angeschlossen, ob im Irak | |
| oder Syrien, weiß seine Familie nicht. Sechs Wochen ist das her, bisher gab | |
| es kein Lebenszeichen. | |
| Deniz, ein Typ mit brauner Lederjacke, bunten Turnschuhen, Jeans und | |
| Locken, die an den Schläfen schon ein wenig grau werden, sitzt im Büro von | |
| Cansu Özdemir, Bügerschaftsabgeordnete der Linken in Hamburg. Cem sei „ganz | |
| normal“ gewesen, sagt er auf Deutsch und dann weiter auf Türkisch: „Ein | |
| absoluter Familienmensch, sensibel und ein wenig schüchtern.“ Özdemir | |
| übersetzt. Als Cems Mutter starb, habe das den Sohn vollkommen aus der Bahn | |
| geworfen. Er fand keine Ausbildungsstelle, zog sich von der Familie zurück, | |
| traf alte Freunde wieder, mit denen er nun in die Moschee ging. | |
| Dabei habe Religion in der kurdisch-allevitischen Familie nie eine große | |
| Rolle gespielt. „Bei uns kann jeder glauben, was er will“, sagt der | |
| 42-jährige Onkel. Als die Familie bemerkte, dass Cems Ansichten immer | |
| radikaler wurden, schickten sie ihn zu Verwandten. Erst in die Türkei, | |
| später nach Köln. „Wir wollten ihn aus seinem Umfeld herausholen“, sagt | |
| Deniz. „An seiner Argumentation haben wir gemerkt, dass da viel von den | |
| Predigten drinsteckte.“ | |
| Die letzten vier Monate habe Cem die Taqwa-Moschee in Hamburg-Harburg | |
| besucht – die hat der Hamburger Verfassungsschutz im Blick. Hier predigt | |
| auch der bekannte Salafist Pierre Vogel, der sich bei öffentlichen | |
| Veranstaltungen gern harmlos gibt. Vor kurzem erst ist er nach Hamburg | |
| gezogen. Der Verfassungsschutz schreibt über ihn, er habe „nicht nur | |
| Kontakt zur politisch-salafistischen Szene, sondern auch zur | |
| jihadistisch-salafistischen Szene, also zu solchen Salafisten, die Gewalt | |
| zumindest befürworten“. | |
| ## Kein Einzelfall | |
| „Das war eine Gehirnwäsche“, sagt Deniz. Trotzdem schöpft die Familie | |
| Hoffnung: Zu einer Familienfeier kommt der 23-Jährige plötzlich ohne den | |
| langen, ungepflegten Bart, den er sich in den vergangenen Monaten hat | |
| wachsen lassen. „Er war gut drauf, hat nicht einmal kritisiert, dass einige | |
| Familienmitglieder Alkohol getrunken haben“, sagt der Onkel und sucht nach | |
| einem Foto auf seinem Handy. | |
| Cem im beigen Pulli, mit gestylten Haaren steht zwischen seinen Cousins. Er | |
| lächelt in die Kamera. Später zieht er in den „Heiligen Krieg“, da ist die | |
| Familie gerade in der Türkei. „Ich hoffe natürlich, dass er zurückkommt“, | |
| sagt Deniz und zuckt mit den Schultern, „aber die Chance ist gering.“ Und: | |
| „Er kann sich nur selbst helfen.“ | |
| Das Schicksal von Cems Familie sei in Hamburg kein Einzelfall, sagt | |
| Özdemir, die selbst Teil der kurdischen Community ist. „Viele Familien sind | |
| hilflos, fragen uns, wie sie ihre Kinder davor schützen können, | |
| Kanonenfutter der Isis zu werden“, so die Linken-Abgeordnete. „Die Familien | |
| sind total verzweifelt.“ Um sich gegenseitig zu unterstützen, haben | |
| betroffene Angehörige jetzt einen „Elternrat“ gegründet. „Aber die Elte… | |
| brauchen auch eine Beratungsstelle mit psychologischer Betreuung“, sagt | |
| Özdemir. | |
| Bisher gibt es ein solches Angebot nur in Bremen: Die dortige | |
| Beratungsstelle „Kitab“, Teil des Vereins Vaja, ist für ganz | |
| Norddeutschland zuständig und wird vom Bund finanziert. „Vollkommen | |
| unterbesetzt“ sei man mit den zwei halben Stellen, sagt Mitarbeiter André | |
| Taubert. Denn der Beratungsbedarf für Angehörige, Lehrer und Sozialarbeiter | |
| sei groß: „Die Eltern haben große Unsicherheiten und Ängste, wenn ihre | |
| Kinder in die salafistische Szene abgleiten.“ | |
| Taubert und seine Kollegin fahren für die Gespräche zu den Familien nach | |
| Hause. Betroffen seien Menschen aller Stadtteile, Bildungsschichten und | |
| Religionen. „Sogar afghanische Familien. Da sind die Eltern noch vor den | |
| Islamisten geflüchtet und ihre Kinder rennen da jetzt hin.“ Nicht nur die | |
| Söhne: Etwa jedes zweite Gespräch in der Beratungsstelle drehe sich um | |
| Mädchen. | |
| ## Ideologie im Kopf | |
| In Hamburg hat die Bürgerschaft vor der Sommerpause ein ähnliches | |
| Beratungskonzept beschlossen, als Teil eines Aktionsprogramms gegen | |
| religiösen Extremismus. Der SPD-Abgeordnete Kazim Abaci erklärt, dass noch | |
| unklar sei, ob diese Beratungsstelle ein freier Träger betreiben soll, oder | |
| ob sie ein gemeinsames Projekt von Schul- und Innenbehörde unter der | |
| Federführung der Sozialbehörde werde. | |
| In jedem Fall aber sollen „Migrantenorganisationen eingebunden werden“. Der | |
| Bremer Berater Taubert hofft, dass Hamburg keine Experimente machen wird: | |
| „Die Betroffenen haben große Hemmschwellen, sich in einer Behörde zu | |
| melden. Freie Träger sind bundesweit das einzig funktionierende Modell.“ | |
| Özdemir geht die Umsetzung der beschlossenen Beratungsstelle nicht schnell | |
| genug. „Niemand kennt das Angebot“, moniert die Abgeordnete. „Die | |
| Betroffenen schreiben mir nachts E-Mails, weil sie nicht wissen, an wen sie | |
| sich wenden können.“ Bei den Beratungen geht es vor allem um Prävention – | |
| die Eltern sollen unterstützt werden, damit ihre Kinder gar nicht erst von | |
| Hamburg aus in den Krieg ziehen. „Das geht uns alle an. Hier in der Stadt | |
| werden Mörder rekrutiert“, sagt Özdemir. Und irgendwann kämen die wieder | |
| zurück. | |
| Beratung hätten auch Deniz und seine Familie gebraucht: „Wir kamen gar | |
| nicht mehr an Cem ran.“ Aber der 42-Jährige glaubt nicht, dass der Neffe | |
| sich dadurch hätte umstimmen lassen. „Wenn jemand diese Ideologie im Kopf | |
| hat, findet er einen Weg.“ | |
| *Namen von der Redaktion geändert | |
| 2 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Andrea Scharpen | |
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