# taz.de -- Ukrainisch-russisches Grenzgebiet: Das dumpfe Echo des Krieges | |
> In Südrussland geht es beschaulicher zu als im fernen Moskau – oder im | |
> nahen Donezk. An der Ukraine-Politik des Kreml zweifelt hier kaum jemand. | |
Bild: Hier spürt man wenig vom Krieg: Essenstand auf dem zentralen Markt von R… | |
ROSTOW AM DON taz | Etwas außer Atem betritt Lena Birukowa das „Kafe Pit“. | |
Es liegt auf dem Budjonowsk-Prospekt, der Hauptstraße im südrussischen | |
Rostow am Don unweit der russisch-ukrainischen Grenze. Ihr Kollege habe | |
noch Gesprächsbedarf gehabt, entschuldigt sich die 30-jährige | |
Französischlehrerin für ihre 40-minütige Verspätung. Ihr Handy klingelt. | |
Die Babysitterin will wissen, wann sie nach Hause kommt. | |
Pünktlichkeit ist nicht die Stärke von Lena Birukowa. Dennoch ist die | |
fröhliche Frau bei Freunden, Verwandten und Kollegen sehr beliebt. Nur in | |
einem Punkt ist die Kluft zwischen ihr und all ihren Bekannten | |
unüberbrückbar – wenn es um Politik geht. Da hat sie mehr Fragen als | |
Antworten. Insbesondere die russische Ukraine-Politik will ihr nicht | |
einleuchten. Den ganzen Abend liefe bei ihr zu Hause der Fernseher, sagt | |
sie. Seit der Ukraine-Krise verpasse ihr Mann keine Nachrichtensendung. | |
Verstehen tut sie das nicht. Schließlich seien die Nachrichten gerade in | |
jüngster Zeit zur reinen Propaganda-Berichterstattung verkommen. Auch Lenas | |
Mann ist von der russischen Politik begeistert und freut sich über den | |
Anschluss der Krim. Die Mutter eines dreijährigen Sohnes weiß, dass sie mit | |
ihrer Haltung in der Millionenstadt allein steht. Die Menschenrechtsgruppe, | |
in der sie vor zehn Jahren gegen das Atomkraftwerk vor Rostow aktiv war, | |
hat sich 2007 aufgelöst. Doch Angst, nein, die habe sie nicht. Sagt’s, | |
steht auf und entschwindet. | |
Wer durch Rostow geht, merkt zunächst nichts davon, dass nur hundert | |
Kilometer entfernt, auf der ukrainischen Seite der Grenze, Krieg herrscht. | |
Im Stadtbild fehlen die vielen Polizisten, die in Moskau an fast jeder | |
Straßenecke stehen. In dieser Stadt brauchen die Behörden keine Aktionen | |
von Kriegsgegnern zu befürchten. | |
## Markttreiben wie in Istanbul | |
Dass nicht alle so wenig Angst haben wie Lena Birukowa, zeigt sich, als | |
fünf bärtige Männer mit südländischem Aussehen in Kampfuniformen ein | |
Lebensmittelgeschäft betreten. Sofort machen ihnen die Frauen Platz, aus | |
den Augen der wenigen anwesenden Männer spricht Hass. Wortlos nehmen die | |
Kämpfer ihre Ware, bezahlen und rauschen mit dem Auto davon. | |
Jeden Morgen fährt Ljudmilla Kim zusammen mit drei weiteren Frauen aus | |
ihrer Kleinstadt nach Rostow. Dort verkauft sie auf dem zentralen Markt im | |
Herzen der Stadt, direkt unter den goldglänzenden Kuppeln der orthodoxen | |
Kathedrale, Gewürze, Meeresfrüchte und Salat. Mit den Einnahmen auf dem | |
Rostower Markt könne sich ihre Familie so gerade über Wasser halten, sagt | |
die 40-Jährige lächelnd. | |
Würde nicht am Eingang ein Rentner die russische Nationalhymne auf dem | |
Akkordeon spielen, man könnte glauben, der Markt wäre ein Basar in | |
Istanbul. Immer wieder rufen sich die Verkäufer in Russisch oder einer | |
Turksprache etwas zu, lachen oder schimpfen dabei. Wer vor einem Stand | |
verweilt, wird sofort umworben. Die Auswahl an Tee, Nüssen, Feigen, | |
getrockneten Pflaumen, Granatäpfeln, Melonen, Gewürzen und Gemüse ist um | |
ein Vielfaches größer und auch preisgünstiger als in den Supermärkten. | |
Fische in jeder Größe wechseln auf blutigen Theken den Besitzer. Doch die | |
meisten werden lebend verkauft. Immer wieder zappelt es in den Taschen der | |
Käuferinnen. | |
## Großfamilie Kim fühlt russisch | |
Die Mitglieder der Großfamilie von Ljudmilla Kim sind koreanische Russen, | |
die sich einst im fernen Osten des Russischen Reiches ansiedelten. Sie | |
erinnern sich gut an die Erzählungen der Alten, als Stalin in den 1930er | |
Jahren ihre Landsleute vom Pazifik nach Zentralasien deportieren ließ. | |
Inzwischen spricht kaum noch jemand in der Großfamilie Koreanisch. „Wir | |
Koreaner wollen hier in Russland leben und wir können sehr gut verstehen, | |
dass auch die Russen auf der Krim und im Donbass in Russland leben wollen.“ | |
Das sei ihr gutes Recht. Ljudmillas Onkel Valentin Kim, der heute mit auf | |
dem Markt ist, hat eine staatstragende Rede gehalten. | |
Der Armenier Sirak, der am Imbiss steht, hält kurz dagegen: „Mit Recht hat | |
die Annexion der Krim nun wirklich nichts zu tun. Da hat Russland eindeutig | |
internationales Recht gebrochen.“ Doch dann zuckt er mit den Schultern. | |
„Was soll’s? Der Westen hat mit seiner Anerkennung des Kosovo auch | |
internationales Recht gebrochen. Jetzt sind wir quitt.“ Für Sirak ist das | |
Gleichgewicht der Kräfte damit wiederhergestellt. Dann fügt er an, dass man | |
sich schließlich nicht immer an das Recht halten könne, wenn man es mit | |
einem Feind wie der Nato zu tun hat. „Ich möchte jedenfalls nicht, dass die | |
Nato 100 Kilometer vor unserer Haustür ihre Raketen aufstellt!“ | |
Seine Freunde nicken beifällig. „Es wird nicht mehr lange dauern, und dann | |
wird aus unserem derzeitigen kalten Krieg ein heißer Krieg“, raunt ein Mann | |
namens Dmitri. „Ihr im Westen werdet euch noch umschauen!“ Dmitri kommt in | |
Fahrt. „Ja, habt ihr denn nicht gelernt von Napoleon und auch von Hitler, | |
dass das russische Volk nie verlieren wird? Wir haben einen großen | |
Kampfgeist, wir sind sehr leidensfähig. Warum nur wollt ihr einen Krieg?“, | |
schimpft er. „Glaubt ihr wirklich, dass es bei diesem Sanktionskrieg | |
bleiben wird? Und dann wird es für alle Länder, die Stützpunkte der | |
US-Armee auf ihrem Boden haben, richtig ungemütlich werden. Dann werdet ihr | |
Deutsche endlich merken, dass man mit Russland besser keinen Streit | |
anzetteln sollte.“ | |
Nicht jeder ist so redselig. „Warum soll sich Russland immer in die Karten | |
sehen lassen?“, sagt ein Taxifahrer ausweichend auf die Frage, ob er denn | |
russische Truppen in der Stadt gesehen habe. Er müsste es eigentlich | |
wissen. „Im Juni und Juli habe ich Militärkolonnen mit Panzern auf der | |
Straße vor meinem Fenster gesehen“, hatte Lena Birukowa im Café erzählt. | |
Unterwegs Richtung Ukraine. | |
Auf dem Zentralen Busbahnhof der Stadt bildet sich eine lange Schlange vor | |
dem Schalter, wo Auslandstickets verkauft werden. Die meisten Wartenden | |
halten ukrainische Pässe in der Hand. Taxifahrer sprechen sie an, bieten | |
Sonderpreise für Fahrten nach Lugansk oder Donezk. Erfolglos, von den | |
Ukrainern kann sich niemand ein Taxi leisten. Auf dem Bahnhof gegenüber | |
warten Mitarbeiter des russischen Katastrophenministeriums auf Flüchtlinge | |
aus der Ostukraine. Sie haben mitten in der Bahnhofshalle ein | |
„Aufnahmezentrum“ eingerichtet, doch niemand interessiert sich für sie. | |
Offenbar treffen seit Abschluss des Waffenstillstandsabkommens kaum noch | |
ukrainische Flüchtlinge ein. | |
## Viele gehen zurück | |
Nicht nur russische Behörden bieten Unterstützung an. Die Rechtsanwältin | |
Anna Serdjukowa berät zusammen mit der Menschenrechtsorganisation Memorial | |
Flüchtlinge und Vertriebene in der Kleinstadt Schachty, direkt an der | |
russisch-ukrainischen Grenze. Serdjukowa geht davon aus, dass seit Anfang | |
Juni 270.000 Menschen aus der Ostukraine nach Russland geflohen sind. Die | |
meisten stammten aus grenznahen Orten und seien bei Verwandten auf der | |
russischen Seite untergekommen, berichtet sie. Die Mehrheit der Flüchtlinge | |
habe Schachty bereits wieder verlassen. Etwa die Hälfte sei zurück in die | |
Ukraine gegangen, die anderen wollten in Russland bleiben. | |
„Ich bin sehr mit der Aufnahme hier zufrieden“, erklärt Jewgeni, einer der | |
Schützlinge von Serdjukowa. Der 28-jährige Schlosser hat in Lugansk alles | |
verloren. „Man hatte mir versprochen, dass ich in Russland in einem Zelt | |
unterkommen kann. Tatsächlich aber habe ich eine Wohnung erhalten.“ Für | |
Jewgeni ist klar, dass er nicht in die Ukraine zurückgeht. „Ich habe alles | |
in Lugansk verloren. Wie soll ich jemals mit den Ukrainern zusammenleben | |
können? Sie haben mein Haus zerstört, meine Seele verletzt.“ Längst nicht | |
alle Flüchtlinge sind so zufrieden. Vergangene Woche erreichte Memorial ein | |
Schreiben ukrainischer Flüchtlinge, die von der russischen | |
Einwanderungsbehörde von Rostow nach Stawropol im Nordkaukasus umgesiedelt | |
worden sind. Man habe außer einer befristeten Anerkennung als Asylbewerber | |
nichts bekommen – keine Arbeit, kein Geld. Nun wünschen sie verzweifelt, in | |
die Ukraine zurückzukehren, aber das Geld ist aus. | |
In Rostow pulst das Leben deutlich langsamer als in Moskau. Und es scheint, | |
dass wirklich niemand an der russischen Ukraine-Politik zweifelt – außer | |
der Französischlehrerin Lena Birukowa. Das liegt nicht nur an den | |
russischen Medien. Auch die Behörden tun alles, damit das Bild einer | |
beschaulichen südrussischen Stadt, in der alle die Politik des Kreml | |
unterstützen, keinen Kratzer bekommt. Am nächsten Morgen ist Lena | |
pünktlich. „Im Frühjahr waren in Rostow sehr viele Menschen auf der Straße, | |
um für einen Anschluss der Krim zu demonstrieren“, erzählt sie. „Aber war | |
es wirklich notwendig, ganze Belegschaften in betriebseigenen Bussen zur | |
Demonstration zu fahren? Warum mussten ganze Schulklassen mit ihren Lehrern | |
dorthin?“ | |
Ein einziges Mal hat sie einen gewissen Unmut verspürt. Als ihr Direktor | |
auf der Konferenz verkündete, dass sich das Lehrerkollegium entschlossen | |
habe, freiwillig ein Prozent des Gehalts für die Krim zu spenden. | |
27 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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