# taz.de -- Der Osten der Ukraine: Bald ist Winter in Lugansk | |
> Nicht gekennzeichnete Panzer rollen durch die Stadt, Schüsse fallen nur | |
> noch selten. Wie sieht der Alltag in der „Volksrepublik Lugansk“ aus? | |
Bild: Zahlreiche Gebäude – private und öffentliche – in Lugansk sind zers… | |
LUGANSK taz | Die Schaufenster leer, die Vitrinen zersplittert oder mit | |
Plastikfolie bespannt. Ob Schönheitssalon Kleopatra, Sportgeschäfte, | |
Aquapark oder der Supermarkt Metro – kaum ein Geschäft in Lugansk hat | |
geöffnet. Lediglich einige Friseure, Lebensmittelläden, Blumengeschäfte und | |
Tankstellen halten ihren Betrieb am Laufen. Großer Andrang herrscht bei den | |
Händlern, die zwischen 9 und 15 Uhr ihren Stand am Straßenrand aufbauen. | |
Sie bieten Fleisch, Obst, Gemüse, Zigaretten, Alkohol, Batterien, | |
Taschenlampen, Klebeband und Reisetaschen an, das, was der Lugansker in | |
diesen Tagen dringend braucht. | |
Schätzungsweise ein Drittel der sonst 500.000 Einwohner der ostukrainischen | |
Metropole ist geflohen. Noch in den Sommermonaten stand die Stadt im | |
Zentrum heftiger Kämpfe zwischen prorussischen Separatisten und | |
ukrainischen Soldaten, seit Anfang September herrscht offiziell Waffenruhe. | |
Nur nachts ist aus der Ferne der dumpfe Widerhall vereinzelter Gefechte zu | |
vernehmen. Lugansk ist die Hauptstadt der von den Separatisten ausgerufenen | |
„Volksrepublik Lugansk“, wer sich als Journalist akkreditieren lässt, darf | |
sich frei bewegen. | |
„Geschlossen“, heißt es auf einem Schild an einer Apotheke. Und weiter: | |
„Einbrecher werden nach den Gesetzen des Krieges bestraft.“ Das bedeutet, | |
klärt ein freundlicher Passant auf, dass Einbrecher sofort erschossen | |
werden. Das Schild sei sicherlich nur zur Abschreckung da, beschwichtigt | |
er. Nur einmal habe er eine Hinrichtung in Lugansk miterlebt. Ukrainische | |
Soldaten, „Diversanten“, die aus einem Auto auf Häuser geschossen haben | |
sollen, seien von Soldaten der „Volksrepublik“ in einem Hinterhof gestellt | |
und sofort erschossen worden. | |
Tragisch findet der Passant das Geschehene nicht. Schließlich verhalte sich | |
die andere Seite noch viel brutaler. Die ukrainische Armee und die | |
ukrainischen Freiwilligenverbände würden ohne Grund Menschen hinrichten. | |
Ein Bekannter sei unweit Lugansk von Angehörigen eines ukrainischen | |
Freiwilligenbataillons aus der Wohnung geholt und erschossen worden. Er | |
soll Aufständische mit Lebensmitteln versorgt haben. | |
## Es gibt nur ein großes Thema: Winter | |
Wirklich interessiert sind die Menschen in Lugansk zurzeit nur an einem | |
Thema: dem bevorstehenden Winter, der oftmals eisige Winde bei Temperaturen | |
von minus zwanzig Grad beschert. Darauf, behauptet die Regierung der | |
„Volksrepublik“, sei man bestens vorbereitet. Wohnungen und Gebäude seien | |
weitgehend beheizbar, erklärt der stellvertretende Premierminister der | |
„Volksrepublik“, Vasilij Nikitin. Ein Team von Fachleuten arbeite rund um | |
die Uhr an der Instandsetzung der Infrastruktur. Zum Gespräch trägt Nikitin | |
Anzug und einen lilafarbenen Schlips. | |
Ein Besuch im Kinderkrankenhaus in der Sadovaja-Straße im Stadtteil | |
Jubilejnij zeigt, dass es um die Infrastruktur keineswegs gut bestellt ist. | |
60 Kinder werden hier behandelt. Vor dem Gebäude wärmen sich Frauen an | |
einem Holzfeuer. „Seit Wochen haben wir weder Strom noch Wasser, kaum | |
Medikamente, nur wenige Fensterrahmen und keine Heizung“, sagen sie. Was | |
nutzt ein Krankenhaus ohne Wasser? | |
Im benachbarten Erwachsenenkrankenhaus Nr. 15 sind derzeit 200 Betten | |
belegt. Ein Generator lärmt am Eingang. „Er wurde uns mit einem | |
Hilfstransport aus Russland gebracht“, erklärt die diensthabende Ärztin, | |
die ihre Schicht im Wintermantel leistet. „Durch den Generator können wir | |
wenigstens den Operationssaal mit Heizung und Strom versorgen und den | |
Computer betreiben.“ | |
## Ärzte ohne Gehalt | |
In der Kinderklinik Nr. 2 in der Schelesnodoroshnoje-Straße, wo | |
Infektionskrankheiten behandelt werden, sind zumindest alle Zimmer beheizt. | |
Doch auch dort arbeiten die Ärzte und Krankenschwestern schon seit Monaten | |
ohne Bezahlung. „Wir haben großen Ärztemangel“, berichtet die Chefärztin | |
Elena Stanislawowna. „Viele Ärzte haben unserer Stadt den Rücken gekehrt.“ | |
Gehalt und Rente – das sind lebenswichtige Punkte in Lugansk. Die rüstige | |
Irina, 70 Jahre alt, die früher als Russisch- und Geografielehrerin | |
gearbeitet hat, ist stolz auf die Gesamtausgabe der Sowjetenzyklopädie, die | |
zwischen kleinen Ikonenbildnissen und Fotos von ihrer Familie im Regal | |
steht. In jedem Raum ihrer Dreizimmerwohnung hat sie Fernsehen und | |
Internet. „Wer weiß, wann sie uns das nächste Mal das Wasser abschalten“, | |
kommentiert sie ihre bis an den Rand gefüllte Badewanne. Irina sieht | |
regelmäßig im Fernsehen russische Nachrichten, im Internet verfolgt sie die | |
ukrainischen Sendungen. „Bei meiner Tochter in Charkow ist es genau | |
umgekehrt. Sie kann dort nur ukrainisches Fernsehen empfangen und verfolgt | |
die russischen Sender im Internet.“ | |
Irina ist am 2. November nur zur Wahl gegangen, weil man allen Wählern eine | |
„Sozialkarte“ versprochen hat. Diese Karte in Form einer Kreditkarte | |
gewährt ihren Besitzern Anrecht auf medizinische Versorgung und humanitäre | |
Hilfe. „Ich brauche keine medizinische Versorgung in einem Krankenhaus, in | |
dem es keinen Strom und kein Wasser gibt“, schimpft Irina. „Und meine zwei | |
Kilogramm Zucker und die vier Fleischkonserven habe ich auch ohne die Karte | |
erhalten.“ | |
Noch mehr schimpft die frühere Lehrerin jedoch auf die ukrainische | |
Regierung. Seit 1973 habe sie in der Ukraine gearbeitet und in die | |
Rentenversicherung eingezahlt. „Nur weil ich jetzt in einem Gebiet wohne, | |
das nicht mehr von Kiew kontrolliert wird, geben sie mir keine Rente. Das | |
ist entwürdigend.“ | |
## „So viel Solidarität“ | |
Viele Bürger in Lugansk sitzen auf halb gepackten Koffern. Anastsaija, eine | |
bekannte Internetbloggerin, ist zwar arbeitslos und auf humanitäre Hilfe | |
angewiesen, will aber trotz der Geldsorgen bleiben. Andere würden sie eine | |
unverbesserliche Optimistin nennen. „So gut wie jetzt ging es uns doch | |
schon lange nicht mehr“, sagt sie. „Seit zwei Monaten wird in der Stadt | |
nicht mehr geschossen. Und so viel Solidarität wie in diesen Tagen habe ich | |
in Lugansk schon lange nicht mehr erlebt.“ | |
Überhaupt seien die Lugansker kluge Leute. Dass in Lugansk, im Gegensatz zu | |
Donezk, der anderen umkämpften Stadt in der Ostukraine, nicht mehr | |
geschossen werde, sei schließlich auch dem Verhandlungsgeschick der | |
Lugansker zu verdanken, meint Anastsaija. Sie geht davon aus, dass sie sich | |
mit den ukrainischen Kommandeuren absprechen. Es sei doch kein Zufall, dass | |
die ukrainische Armee häufig ins Leere schieße und ihre Ziele bewusst nicht | |
treffe. | |
Der Regierung der „Volksrepublik“ scheint die Sorge um das Überwintern ein | |
dringlicheres Anliegen zu sein als die Statusfrage. „Ob sich die | |
Volksrepublik Lugansk mit der Volksrepublik Donezk vereinigen wird oder | |
nicht, können wir nicht jetzt entscheiden“, sagt der stellvertretende | |
Premier Vasilij Nikitin dazu. „Wir haben Krieg, den Winter vor der Tür und | |
somit andere Sorgen. Sobald Frieden herrscht, werden wir uns um die | |
Vereinigung mit der Volksrepublik Donezk kümmern. Und dann werden wir uns | |
vereinigen – oder auch nicht, je nachdem, welche Wünsche das Volk haben | |
wird.“ | |
## Wie geht es weiter? | |
Der Journalist Boris Moskaljuk, 74, Exchefredakteur von Das Leben in | |
Lugansk, macht sich durchaus Gedanken über das, was nach dem Winter kommt. | |
Die Zukunft der Stadt liegt für ihn nicht in Russland. „Russland will uns | |
nicht“, sagt er. „Deswegen ist die einzige Alternative, mit Kiew zu | |
verhandeln. In diesen Verhandlungen müssen wir eine größtmögliche Autonomie | |
in den Grenzen der Ukraine anstreben.“ Mit seinem Plädoyer für | |
Verhandlungen mit der Ukraine steht der pensionierte Journalist allerdings | |
ziemlich alleine. Dass zahlreiche zivile Objekte, Wohnhäuser, Parks und | |
Schulen von ukrainischen Truppen beschossen worden sind, können viele der | |
ukrainischen Regierung nicht verzeihen. | |
Taxifahrer Vadim sieht sich abends im Internet nach einem neuen Job um – in | |
Russland. Derzeit gebe es jedoch nur Jobs auf dem Bau, murrt er. Dies kommt | |
für ihn nicht in Frage, nicht noch einmal, das hat er schon hinter sich – | |
und dabei seine Gesundheit ruiniert. Irritiert hält er inne. „Ich kann | |
nicht nach links abbiegen. Sehen Sie nur, was da auf uns zukommt.“ | |
Ein fast geräuschlos langsamer Militärkonvoi rollt über die | |
Budjonova-Straße. Keines der Fahrzeuge hat eine Kennung. „Das sind wieder | |
Russen“, meint Vadim. „Heute sind es 50 Lkws, gestern waren es ebenso viele | |
und vorgestern auch. Sie kommen immer bei Einbruch der Dunkelheit über die | |
50 Kilometer entfernte russisch-ukrainische Grenze und fahren dann Richtung | |
Donezk weiter. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Russen hier | |
Grad-Raketen aufgebaut haben.“ | |
Solange wir solche Gäste haben, sagt er, ist ein Friede in weiter Ferne. | |
15 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
## TAGS | |
Ukraine-Konflikt | |
Lugansk | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Russland | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
G20 | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ostukraine | |
Ostukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Flüchtlinge | |
Ukraine-Krise | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Finanzkrise in der Ukraine: Energiepreise sollen steigen | |
Das Land steht kurz vor dem finanziellen Aus. Da auch der staatliche | |
Energieversorger Naftogaz ein Defizitproblem hat, sollen die Bürger nun | |
mehr für die Versorgung zahlen. | |
Konflikt in der Ukraine: Der Krieg in den Köpfen | |
Die Gewalt im Donbass frisst sich immer tiefer hinein in die Familien. | |
Selbst ein Abendessen mit Borschtsch endet schnell im Desaster. | |
Gesundheitswesen in Russland: Krankenhaus zu – Friedhöfe belegt | |
Tausenden Ärzten und Schwestern wird in Russland gekündigt, Kliniken | |
schließen. Gegen die Maßnahmen gab es in 40 Regionen des Landes Proteste. | |
OSZE-Mission in der Ukraine: Massiv unter Beschuss | |
Es wächst die Kritik an den Beobachtern, die bisweilen auch selbst | |
angegriffen werden. Die Konfliktparteien werfen ihnen vor, nicht neutral zu | |
sein. | |
Ukraine-Konflikt: Platzeck fordert Nachsicht für Putin | |
Die EU verhängt neue Sanktionen gegen die Separatisten in der Ostukraine. | |
Und Ex-SPD-Chef Matthias Platzeck will die Krim als Teil Russlands | |
anerkennen lassen. | |
Kommentar Sozialleistungen Ukraine: Fatale Entscheidung in Kiew | |
Auch die Bewohner des Donbass sind Ukrainer. Die Entscheidung der | |
Regierung, soziale Leistungen im Osten zu streichen, ist kurzsichtig. | |
Erlass von Präsident Poroschenko: Staatliche Gelder im Osten gestrichen | |
Schulen, Krankenhäuser und Rettungsdienste sind betroffen: Kiew stellt | |
staatliche Leistungen im Osten des Landes ein. Das Geld soll in „humanitäre | |
Hilfe“ fließen. | |
G20-Gipfel in Brisbane: Russland und die „Gefahren der Welt“ | |
Die EU droht Russland mit neuen Sanktionen, während der US-Präsident das | |
Land verbal kritisiert. Beim G20-Gipfel geht es auch um die Ebola-Krise und | |
den Klimaschutz. | |
Konflikt in der Ukraine: Waffenruhe in Gefahr | |
Kiew will die von den Separatisten besetzen Gebiete nicht zurückerobern. | |
Die Nato kritisiert Wladimir Putin scharf und England droht mit härteren | |
Sanktionen. | |
Mit dem Zug durch die Ukraine: Reise ins Feindesland | |
Täglich gibt es Tote im Kampf zwischen Regierungstruppen und Rebellen. Doch | |
die Bahn verkehrt immer noch aus Kiew in die „Volksrepublik Lugansk“. | |
Kommentar Wahl in der Ostukraine: Für Kiew kandidiert keiner | |
Die „Volksrepublik Donezk“ ist keine Demokratie. Sie ist nicht einmal ein | |
anerkannter Staat. Trotzdem ist die Wahl dort nicht zwingend anzuprangern. | |
Abstimmung in der Ostukraine: Wahllokal mit Gemüsemarkt | |
Die prorussischen Separatisten halten ihre international nicht anerkannte | |
Wahl ab. Die Teilnahme ist rege, es gibt schließlich auch einen Bonus. | |
Aus „Le Monde diplomatique“: Die Clans der Ukraine | |
Das Land ist seit Jahrzehnten in der Hand von Oligarchen. Sie beherrschen | |
Wirtschaft, Medien und Politik. Die Korruption bestimmt den Alltag. | |
Kommentar Streubomben in der Ukraine: Auf dem besten Weg in die Spaltung | |
Die ukrainische Führung soll Streubomben eingesetzt haben. Das wäre Wasser | |
auf die Mühlen der Separatisten. Europa muss Klartext reden. | |
Flüchtlinge in der Ukraine: Der Kampf um die Wohnungen | |
Bis zu 400.000 Menschen aus dem Kriegsgebiet sind in andere Landesteile | |
geflohen. Sie suchen eine Bleibe und stehen vor einer ungewissen Zukunft. | |
Ukrainisch-russisches Grenzgebiet: Das dumpfe Echo des Krieges | |
In Südrussland geht es beschaulicher zu als im fernen Moskau – oder im | |
nahen Donezk. An der Ukraine-Politik des Kreml zweifelt hier kaum jemand. |