# taz.de -- Gesundheitswesen in Russland: Krankenhaus zu – Friedhöfe belegt | |
> Tausenden Ärzten und Schwestern wird in Russland gekündigt, Kliniken | |
> schließen. Gegen die Maßnahmen gab es in 40 Regionen des Landes Proteste. | |
Bild: „Für mich gab es kein Krankenhausbett“ steht auf dem Sarg – Demon… | |
MOSKAU taz | Mehrere Tausend Angestellte des russischen Gesundheitswesens | |
demonstrierten am Wochenende in vierzig Regionen Russlands gegen die | |
laufenden Reformen im Gesundheitsbereich. In Moskau nahmen nach Schätzungen | |
der Veranstalter rund 5.000 Menschen an der Demonstration teil. Es war | |
damit die größte sozialpolitische Protestaktion der letzten drei Jahre. | |
„Krankenhaus schließen? Friedhöfe aufmachen!“ stand auf einem Transparent. | |
Andere erinnerten an die Ausgaben für den Krieg in der Ukraine. „Schickt | |
die Truppen lieber in den Gesundheitssektor als zum Nacbarn.“ Und über den | |
Kundgebungsplatz schlich ein schwarzer Sensenmann, der seine Dienste als | |
Therapeut gegen Korruption anbot. | |
Der Unmut des medizinischen Personals hat sich seit Wochen aufgestaut. Im | |
Oktober wurden reihenweise Ärzten und Krankenschwestern in staatlichen | |
Gesundheitseinrichtungen gekündigt. Die Entlassung wurde meist mit einer | |
anstehenden Schließung eines Krankenhauses im Zuge einer | |
Effektivitätssteigerung begründet. | |
Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens 5.000 Angestellte | |
betroffen sein könnten. 28 medizinischen Einrichtungen in Moskau steht das | |
endgültige Aus bereits bevor. Er selbst sei Gott sei Dank nicht betroffen, | |
sagt der Neurologe Nikolai Genadijewitsch. Seit 40 Jahren arbeitet der Arzt | |
im selben Moskauer Hospital. „Wir wurden weder informiert noch gefragt“, | |
sagt er. „Was in anderen Ländern Jahre in Anspruch nimmt, soll bei uns mal | |
wieder in Wochen durchgezogen werden.“ | |
## 1.000 Euro im Monat als Neurologe | |
Der Neurologe selbst hat zwei Jobs hat, weil die Stelle als Neurologe im | |
Staatsdienst mit rund 1.000 Euro im Monat die Familie nicht ernährt. Sollte | |
auch er entlassen werden, müsste er im Moskauer Umland eine Stelle suchen. | |
Moskaus Regierung bietet den Entlassenen zwar Stellen in anderen | |
Landesteilen an und lockt mit Umschulungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. | |
Diese Programme sind jedoch nicht beliebt, weil sie keinen gleichwertigen | |
neuen Job garantieren. Ein Arzt kann da schon mal zum Sanitäter werden. | |
Vor zweieinhalb Jahren ordnete Kremlchef Wladimir Putin eine | |
Gesundheitsreform als vorrangige Aufgabe seiner dritten Amtszeit an. | |
Grundsätzlich sind sich Experten, Patienten und Regierung einig, dass | |
dieser Bereich überholungsbedürftig ist. In einer Umfrage des | |
Lewada-Zentrums 2012 hielten die meisten Bürger den beklagenswerten Zustand | |
des Gesundheitssystems für Russlands größtes Problem. | |
Die Demonstranten fürchten jedoch, dass die Reformen nur dem Sparen dienen | |
und nicht die Qualität der medizinischen Versorgung verbessern. Der Staat | |
lässt Krankenhäuser schließen, weil sie angeblich nicht ausgelastet sind. | |
Die Ärzte lassen das so nicht stehen und halten dem entgegen, dass vor | |
allem Spezialkliniken vom Abbau betroffen seien. „In der Kinderklinik Nr. | |
12 gab es eine sehr gute Abteilung für Lungenerkrankungen, das Krankenhaus | |
Nr. 8 hatte sich auf ausgefallene Hautkrankheiten spezialisiert. Solche | |
Fachabteilungen gibt es in Moskau jetzt nicht mehr“, sagt Alexander | |
Awerjuschkin von der NGO „Gemeinsam für eine lebenswerte Medizin“. Er ist | |
auch einer der Veranstalter der Demonstration. | |
## Immobilien in Top-Lage | |
Die Schließung der kostspieligeren Krankenhäuser soll die Bevölkerung dazu | |
bewegen, in die ambulanten Polikliniken zu wechseln, die die Funktion eines | |
Hausarztes in Deutschland erfüllen. Patienten fühlen sich dort jedoch nicht | |
so gut aufgehoben. Auch Ärzte ziehen es vor, wegen des geringeren | |
Verdienstes und der eintönigeren Tätigkeit um Polikliniken einen Bogen zu | |
machen. Da ein Großteil der Diagnostik bislang im Krankenhaus stattfand, | |
wurden Patienten auch bei geringfügigeren Gebrechen sofort stationär | |
eingewiesen. Dadurch entstand seit Jahrzehnten zwischen Tageskliniken und | |
Krankenhäusern ein Missverhältnis an medizinischen Leistungen. | |
Das soll im Zuge der Reform durch den Abbau von 35.000 Betten korrigiert | |
werden. Hinter der Zusammenlegung mehrerer Krankenhäuser zu größeren | |
Einheiten vermuten Kritiker in Moskau jedoch noch etwas anderes: krumme | |
Immobiliengeschäfte. Einige der geschlossenen Häuser befinden sich in | |
Moskauer Top-Lagen. | |
Ebenfalls umstritten ist der neue Modus der Finanzierung des | |
Gesundheitswesens. Bislang erhielten die medizinischen Einrichtungen Gelder | |
aus staatlichen Töpfen auf föderaler, regionaler und kommunaler Ebene. Der | |
Staat zieht sich ab 2015 jedoch zurück und überlässt der | |
Pflichtkrankenversicherung die Finanzierung. Deren Gelder dürften jedoch | |
bestenfalls für eine Grundversorgung reichen, die noch weniger abdeckt als | |
die bislang kostenlose Leistung. Besonders Rentner trifft die | |
Privatisierung empfindlich. Viele werden sich eine menschenwürdige | |
Behandlung nur noch leisten können, wenn die Familie die Kosten übernimmt. | |
1 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
## TAGS | |
Russland | |
Protest | |
Gesundheitspolitik | |
Ärzte | |
Krankenhäuser | |
Ukraine | |
Schwerpunkt TTIP | |
Ukraine-Konflikt | |
Krim | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neue Waffenruhe in Lugansk: Tausend Tote seit Feuerpause | |
Am Freitag soll eine neue Waffenruhe in der Region Lugansk in Kraft treten. | |
Zwar gibt es schon eine seit September, diese wird jedoch fast täglich | |
durchbrochen. | |
Debatte Russlands Rolle in der Welt: Der große Pragmatismus | |
In der sich formierenden neuen Weltordnung sieht Außenminister Steinmeier | |
die EU nicht in führender Rolle. Russland aber soll sich ihr unterordnen. | |
Der Osten der Ukraine: Bald ist Winter in Lugansk | |
Nicht gekennzeichnete Panzer rollen durch die Stadt, Schüsse fallen nur | |
noch selten. Wie sieht der Alltag in der „Volksrepublik Lugansk“ aus? | |
Demonstration in Moskau: 50.000 für den Frieden | |
Am Tag vor dem Krim-Referendum demonstrierten Zehntausende gegen Putins | |
Politik. Der Kreml versucht derweil kritische Informationen zu unterbinden. |