# taz.de -- Russische NGO „Memorial“: Ein Dorn im Auge der Machthaber | |
> Seit Ende der 80er widmet sich die NGO der Aufarbeitung des Stalinismus. | |
> Jetzt droht das Aus – wegen der dezentralen Strukturen. | |
Bild: Eine Büste des russischen Diktators Josef Stalin auf seinem Grab auf dem… | |
MOSKAU taz | Arsenij Roginskij holt zwei dunkelrote Pappschachteln aus der | |
Schublade und stellt sie vor sich auf den Schreibtisch. Dann lüftet der | |
Mitbegründer und Vorstandsvorsitzende der Nichtregierungsorganisation (NGO) | |
„Memorial“ vorsichtig die Deckel. In jeder Schachtel liegen zwanzig | |
fabrikfrische „Papirossi“, typische Sowjetzigaretten. | |
Die einen waren für die Delegierten des 17. Kongresses der Kommunistischen | |
Partei der Sowjetunion (KPdSU) 1934 in Moskau bestimmt, die anderen für die | |
Teilnehmer des 7. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, der | |
ein Jahr später in der Welthauptstadt des Proletariats stattfand. Die | |
Zigaretten haben die Zeit seitdem unbeschadet überstanden. Von den | |
Parteitagsdelegierten kamen rund 70 Prozent bei „politischen Säuberungen“ | |
ums Leben. | |
Dann zeigt Roginskij ein zerknittertes Schreiben. Es stammt aus der Feder | |
des Moskauer Staatsanwalts Andrei Wyschinski, der sich 1933 für die | |
Freilassung eines Genossen starkmachte. „1933 war eine menschliche Regung | |
demnach noch erlaubt“, sagt Roginskij. 1936 wurde Wyschinski Chefankläger | |
bei den Moskauer Schauprozessen und einer der blutrünstigsten Henker des | |
Diktators Josef Stalin. | |
Die drei kostbaren Erinnerungsstücke wurden Memorial erst vor Kurzem | |
übergeben. Seit das russische Justizministerium versucht, die NGO | |
aufzulösen, ist eine beispiellose Solidarisierungswelle im Gang, sagt | |
Roginskij. Jeden Tag kommen Menschen, um Dinge aus Familienarchiven für das | |
Museum im Keller des Moskauer Büros zu spenden. | |
Das Ministerium hat Memorial wegen Formalien verklagt. Konkret stört man | |
sich an der Struktur der NGO. Dabei hatte Russlands Justiz mehr als 20 | |
Jahre lang nichts an dem zugegeben etwas unübersichtlichem Netz | |
auszusetzen. Alle Kontrollen, mit denen Präsident Wladimir Putin | |
zivilgesellschaftliche Organisationen seit seinem Machtantritt überzog, | |
trafen auch Memorial. Doch erst jetzt heißt es: Korrigiert eure | |
Organisationsstruktur – oder wir lösen euch auf. | |
## Kein bewusstes Konstrukt | |
Konkret beklagt das Justizministerium, dass Memorial keine einheitliche | |
Mitgliederstruktur vorweisen kann. Neben juristischen Personen gehören auch | |
Ableger in der Provinz zum Netzwerk, die über keinen eigenen juristischen | |
Status verfügen. Innerhalb von Memorial International ist die russische NGO | |
ein eigenes Geflecht mit rund 60 Mitgliedsorganisationen. | |
Diese komplexe Struktur war kein bewusstes Konstrukt. „Wir sind als | |
Initiativen von unten entstanden“, erklärt Roginskij. Nach und nach wurden | |
Ende der 1980er Jahre in den Teilrepubliken der Sowjetunion lokale | |
Initiativen gegründet. „Wir haben mit denen zusammengearbeitet, sie beraten | |
und uns fachlich ausgetauscht.“ Diese Initiativen übernahmen dann oft auch | |
den Namen Memorial zusammen mit der Ortsbezeichnung – blieben dabei aber | |
juristisch und organisatorisch unabhängig. Da sie sich dabei mit denselben | |
Themen befassten, sich ähnliche Statuten gaben und politisch meist auf | |
einer Wellenlänge lagen, behandelte die Bürokratie lange alle | |
Memorial-Gruppen wie ein einheitliches Gebilde. | |
Der aktuelle Vorstoß gegen Memorial hat einen politisch-ideologischen | |
Hintergrund: Die NGO ist den Machthabern in Moskau seit Langem ein Dorn im | |
Auge. Das juristisch eigenständige „Menschenrechtszentrum Memorial“ hat | |
sich schon in den Tschetschenien-Kriegen der 1990er Jahre einen Namen | |
gemacht: Seine Mitarbeiter zeichneten Menschenrechtsverletzungen auf und | |
prangerten Kriegsverbrechen an, leisteten Flüchtlingen und Kriegsopfern | |
materielle Hilfe und nahmen die Suche nach Vermissten und Entführten auf. | |
Dafür erhielt Memorial mehrfach internationale Preise, darunter 2004 den | |
Alternativen Nobelpreis und 2009 den Sacharow-Preis des Europäischen | |
Parlaments in Erinnerung an die Menschenrechtsaktivistin Natalja | |
Estemirowa. Die Leiterin des tschetschenischen Memorial-Büros wurde 2009 | |
hingerichtet. Der Mord gilt als trauriger Beleg dafür, wie sehr Memorial | |
die Machthaber in Grosny störte. Er wurde nie aufgeklärt. | |
Im Streit über das Gesetz, das NGOs verpflichtet, sich als „ausländische | |
Agenten“ registrieren zu lassen, wenn sie Gelder aus anderen Ländern | |
erhalten, wurde das Menschenrechtszentrum auch schon ausgesondert und | |
einzeln verklagt. Da das zentrale Memorial-Büro in Russland keine | |
Weisungsbefugnis gegenüber anderen Ablegern besitzt, bestreitet das | |
Justizministerium der Zentrale nun auch die Existenzberechtigung. | |
„Wir tun in deren Augen nichts“, lacht Roginskij, „ weil wir weder Geld | |
verteilen noch Anweisungen geben.“ Unverkennbar verbirgt sich dahinter ein | |
Geburtsfehler der russischen Staatsmaschine, die Initiativen von unten | |
nicht anerkennt. Dass der Vorstoß aus dem Kreml stammt, glaubt der | |
Historiker nicht. Er vermutet, die Initiative sei auf den mittleren Etagen | |
der Bürokratie ausgebrütet worden. Ein kleiner Wichtigtuer, der auch noch | |
mal auf der rauschenden Welle des Nationalen zum Erfolg reiten wollte. | |
## Klage ohne Risiko | |
Auf jeden Fall geht der Beschwerdeführer mit der Klage gegen Memorial kein | |
Risiko ein. Er bewegt sich in ideologisch freigegebenem Fahrwasser. Während | |
der Kreml den Diktator Stalin rehabilitiert und zum erfolgreichen | |
Modernisierer aufbaut, der die Sowjetunion erst zur Weltmacht führte, | |
erhebt Memorial Klage. Repressionen, Zwangsarbeit und Millionen Tote sind | |
dem offiziellen Moskau jedoch bestenfalls noch eine Fußnote wert – falls es | |
sich nicht ganz umgehen lässt. Während der Kreml die Russen zu einem Volk | |
von ewigen Siegern stilisiert, wartet Memorial mit nüchterner Betrachtung | |
der Historie auf. | |
Im Keller wird gerade eine Ausstellung vorbereitet: „Recht auf | |
Briefverkehr“ lautet der Titel. Irina Scherbakowa holt dazu aus einer | |
Archivablage ein Tuch hervor, auf dem eine inhaftierte Mutter im Lager ihre | |
Kinder in einer gestickten Bitte anfleht, sie nicht zu vergessen. | |
Scherbakowa organisiert seit 15 Jahren für Memorial einen historischen | |
Schülerwettbewerb, in dem Jugendliche die Auswirkungen der Politik auf die | |
Geschicke der eigenen Familie und engeren Umgebung untersuchen. 50.000 | |
haben bisher teilgenommen. | |
Aber in letzter Zeit werden es weniger. Die Schüler seien früher | |
selbständiger gewesen. Überall lasse sich der offiziell verordnete | |
Patriotismus spüren, sagt sie. In den neueren Arbeiten tun sich zwischen | |
der offiziösen Geschichtserzählung und dem Schicksal der Familien in der | |
Region Klüfte auf. Familiäre Tragik und patriotischer Stolz stehen | |
unvermittelt nebeneinander. „Erstaunlich, wie viele Jugendliche trotzdem | |
noch mitmachen“, sagt sie. Auch wundere sie sich, dass es immer noch viele | |
ältere Menschen gäbe, die sich das Recht zu forschen nicht nehmen ließen – | |
obwohl sie wissen, worauf sie sich einlassen. Die meisten kommen aus der | |
Provinz. | |
Für Arsenij Roginskij sind diese Unermüdlichen der Grund, warum selbst eine | |
Schließung von Memorial Russland nicht zur Katastrophe führen würde. Sie | |
machen ihre Sache weiter wie bisher, sagt er, egal ob mit oder ohne | |
rechtlichen Status oder Struktur. Natürlich wird alles schwieriger. Der | |
Wind ist eisig. Doch drehen sich Winde auch in Russland, meint er | |
verschmitzt. | |
Auf einer landesweiten Mitgliederversammlung Ende November beschlossen die | |
Memorial-Organisationen in den Regionen, den Forderungen des | |
Justizministeriums entgegenzukommen. Nach einer Satzungsänderung sind sie | |
bereit, sich als Filialen der Moskauer Zentrale registrieren zu lassen. Ob | |
den Klägern diese Änderung der Staturen ausreicht, sollte sich am Mittwoch | |
zeigen. Doch das oberste Gerichtshof des Landes vertagte jedoch seine | |
Entscheidung auf den 28. Januar. | |
17 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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