# taz.de -- Debatte Repräsentative Demokratie: Protest, auf den Hund gekommen | |
> Es gibt viel Kritik an der repräsentativen Demokratie. Kreative | |
> Alternativen machen sich aber nicht bemerkbar und das Protestpotenzial | |
> ist gering. | |
Bild: Wer trägt heutzutage schon noch die rote Fahne? | |
Die repräsentative Demokratie ist verstockt und erodiert in vielen | |
Bereichen. Die Wahlbeteiligung geht seit Jahren zurück. Die Reputation von | |
Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Banken und | |
Leitmedien sinkt rapide. Das wirkliche Engagement in den Parteien nimmt | |
dramatisch ab – lieber werden Pfründe verwaltet als gestaltet. Die Menschen | |
begreifen ohnmächtig, dass Märkte wichtiger sind als sie. Aber nichts folgt | |
daraus. Kein Aufruhr, kein Protest. | |
Die FAZ räsonierte über das deutsche Jahrhundert: Es sei eine | |
wohlfühlend-bleierne Zeit, in der die täglichen Schreckensnachrichten der | |
Weltkrisenherde alles erschlagen. Kommt hinzu: Die Bewältigung des Berufs, | |
der Familie und des Alltags beherrscht die Menschen – einschließlich der | |
Tatsache, dass die digitalisierte Demokratie das jugendliche Arbeits- und | |
Spaßvermögen jeden Tag im Durchschnitt 6 Stunden und 28 Minuten absorbiert. | |
Für demokratischen Protest bleibt keine Zeit. | |
Der massive Verdruss über die repräsentative Demokratie – so meine These – | |
führt aber nicht zu einem Zugewinn an Einfluss der sozialen Bewegungen und | |
des außerparlamentarischen Protests. Die Kritik an der repräsentativen | |
Demokratie lässt sich nicht in ein größeres Engagement für die direkte | |
Demokratie transformieren. | |
Dem verbreiteten Bild, die Republik habe eine ungeheuer bewegte | |
Bürgergesellschaft, die ihre Bürgermacht wirkungsvoll gesteigert hat, | |
widerspreche ich. Natürlich sind die Selbstermächtigungen der BürgerInnen | |
immer wieder beeindruckend, und auf internationalen Konferenzen wird die | |
deutsche Balance von repräsentativer und direkter Demokratie des Öfteren | |
als spannend gelobt. Aber mal ehrlich: Mit den massenhaften Bewegungen auf | |
den Fanmeilen des deutschen Weltmeisterfußballs können die Bürgeraufbrüche | |
nicht annähernd mithalten. | |
## Vorzeigbare Erfolge | |
Sicher, die Mobilisierung der Anti-AKW-Bewegung oder der in Europa fast | |
einzigartigen Bündnisse gegen Rechtsextremismus wie etwa „Dresden Nazifrei“ | |
sind hoch zu veranschlagen. Auch die Rekommunalisierungen der Wasser- und | |
Energieversorgung sind ein vorzeigbarer Erfolg. Aber es gibt viele Themen, | |
für die es derzeit unmöglich scheint, die Menschen zu mobilisieren. | |
Sozialproteste gegen die zunehmende Verarmung breiter | |
Bevölkerungsschichten: Fehlanzeige. Fast alle Erwerbslosen-Initiativen sind | |
aufgelöst. Anti-Banken- und Finanzmarktproteste: ganz kleine Blümchen. | |
Occupy: ein peinliches Desaster. Blockupy: ein klassisches linkes Bündnis | |
mit einer fundierten Kritik an der EU- und EZB-Politik, aber blutleer in | |
Allianzen und provozierenden Aktionen. Massenmobilisierungen im | |
Bildungsbereich sind seit dem Bildungsstreik 2009/2010 verstummt. Gegen den | |
NSA-Skandal: nichts. Und der Protest gegen die Rüstungsexporte in | |
menschenrechtsverbrecherische Länder wie Saudi-Arabien durch das | |
respektable Bündnis „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“? Am | |
Bodensee, in Kassel, München, Berlin und Oberndorf organisierten sie oft | |
pfiffige Proteste, 100 bis 300 Menschen kamen. Aber Massenmobilisierung? | |
Nicht möglich. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist gegen Rüstungsexporte | |
in den Nahen Osten, Algerien und Indonesien – und tut nichts. | |
Neben dem Mythos von den Massenprotesten gehört auch zur Wahrheit, dass die | |
Zahl der Aktivisten in den sozialen Bewegungen, die mit langem Atem dicke | |
Bretter bohren, vergleichsweise überschaubar ist. Bei Campact, bei attac, | |
bei den Menschenrechts- und Bürgerrechtsorganisationen der Republik sind es | |
meist nicht mal 50 Leute, die den Laden schmeißen. Im Klartext: Die | |
demokratische Legitimation von vielen Bewegungen ruht auf erstaunlich | |
wenigen Schultern und Köpfen. Die früher unverzichtbaren Schüler und | |
Studierenden sind angesichts von Turbo-Abitur und Bachelor-Master-Wahn | |
meist nur noch zu Events mit flashmobs temporär mobilisierbar. | |
Natürlich gibt es Erfolge, wie sie etwa die Anti-AKW-Bewegung und die | |
Bündnisse gegen Rechtsextremismus vorzuweisen haben. Natürlich ist es auch | |
ein Erfolg vielfältiger außerparlamentarischer Bewegungen, dass die | |
Bereitschaft, ein TTIP-Abkommen auszuhandeln und zu unterzeichnen, bei den | |
europäischen Regierungen inzwischen als höchst zweifelhaftes Unternehmen | |
angesehen wird. | |
## Demokratisierungsvorhaben auf Eis | |
Aber die Niederlagen sind niederschmetternd: Stuttgart 21 wird – trotz | |
milliardenschwerer Mehrbelastungen – vorerst gebaut. Die NSA und die | |
deutschen Geheimdienste können sich angesichts bisher ausgebliebenen | |
Proteste entspannt zurücklehnen. Eine Frauenbewegung der | |
geschlechterdemokratischen Zuspitzung gibt es nicht mehr, eine hauchzarte | |
Männerbewegung erschöpft sich in zweimonatigen Männermonaten beim | |
Erziehungsgeld. | |
Merkel kann ihre klammheimliche Rüstungsexportpolitik zur „Ertüchtigung von | |
Kriegseinsätzen“ fortsetzen. Ursula von der Leyen und Andrea Nahles können | |
fast eine Million Hartz-IV-Empfängern Geldstrafen wegen terminlicher und | |
anderer Versäumnisse aufbrummen, ohne dass es einen gesellschaftlichen | |
Aufschrei gibt. Alle Demokratisierungsvorhaben für bürgernähere | |
Beteiligungspolitik sind in der GROKO auf Eis gelegt. Konzepte zur | |
Reduzierung der europäischen Jugendarbeitslosigkeit werden noch nicht | |
einmal verhandelt. Banken müssen weder ihre Entflechtung noch die wirkliche | |
Einschränkung ihrer oft verbrecherischen Produktpalette fürchten. Die Asyl- | |
und Flüchtlingspolitik kann die Festung in Europa zementieren, trotz aller | |
verzweifelter Proteste an der türkisch-griechischen Grenze oder in den | |
Flüchtlingscamps in Berlin und anderswo. | |
## Die Herrschenden haben gelernt | |
Schließlich ist das demokratische Mittel des zivilen Ungehorsams – | |
gewaltfrei, gewissensmotiviert, auf legale Veränderungen orientiert und | |
bewusst Regeln verletzend – ziemlich auf den Hund gekommen. Die | |
Herrschenden haben hinzugelernt, sie wissen, wie sie den Protest am langen | |
Arm verhungern lassen können. Der zivile Ungehorsam selbst ist weniger als | |
früher eingeübt und selbstverständlich. Vor allem junge Leute sind | |
merkwürdig harmonisch orientiert, sie orientieren sich eher an | |
Fernsehbildern des bemalten Protests als den Herrschenden wirklich vor das | |
Schienbein zu treten. Als in Stuttgart die Räumungen des Schlossgartens und | |
Bahnhofs verkündet wurden, hatten sich fast 2.000 Menschen für Aktionen des | |
zivilen Ungehorsams eingetragen. Als es mit der Polizei zum Schwur kam, | |
waren 400 ungehorsamsbereite Demonstranten da, von denen 300 nach der | |
ersten Aufforderung der Polizei das Feld räumten. | |
Schließlich gehört zur These des marginalen Zugewinns der sozialen | |
Bewegungen auch ein selbstkritisches Wort zur Binnen-Demokratie. Der | |
Anspruch der flachen Hierarchien, der Mitmach-Möglichkeiten, der | |
Geschlechterdemokratie und der basisdemokratischen Entscheidungen hat in | |
manchen Bewegungen erhebliche Schrammen. Basisdemokratische Entscheidungen | |
sind oft von Wenigen gesteuert, es gibt Klüngeleien vom Feinsten, | |
Selbstreflexion findet nicht statt. Dass junge Leute sich oft abwenden, | |
hängt auch damit zusammen, dass die Basisdemokratie sehr altbacken | |
daherkommt. Viele misstrauen beidem: der repräsentativen Demokratie und der | |
direkten. | |
Die repräsentative Demokratie abzuschaffen, ist völlig unrealistisch wie | |
auch die etwas naive Vorstellung, die Herrschenden wären an einer mehr | |
Demokratie versprechenden Reform interessiert. Die Selbstermächtigung im | |
Sinne direkter Demokratie ist schon der Schlüssel dafür, die repräsentative | |
Demokratie unter Druck zu setzen, eine neue Balance von direkter und | |
repräsentativer Demokratie herzustellen. Dazu gehört massenhaftes | |
politische Engagement mit mehr zivilem Ungehorsam. Man kann Erfolg damit | |
haben. Denn die Herrschenden sind viel unsicherer und | |
machtopportunistischer, als wir denken. | |
28 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Peter Grottian | |
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