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# taz.de -- Schweiz weist Nicht-EU-Musiker aus: „Als wären wir Kriminelle“
> In Basel sollen freie Musiker aus Nicht-EU-Ländern ab 2015 ausgewiesen
> werden. Der Lautenspieler Orí Harmelin ist einer der Betroffenen.
Bild: Hoffentlich festangestellt: Musiker in der Schweiz.
taz: Herr Harmelin, Sie leben als freischaffender Musiker in Basel. Die
Musikszene ist dort seit einiger Zeit ziemlich in Aufruhr. Was ist
passiert?
Orí Harmelin: Ab 2015 dürfen freischaffende Musiker aus Nicht-EU-Ländern
nicht mehr in der Schweiz wohnen. Sie können nur dann eine
Aufenthaltsbewilligung bekommen, wenn sie eine feste Stelle haben, bei der
sie mindestens 75 Prozent der Arbeitszeit tätig sind. Aber dann sind sie
nicht mehr freischaffende Musiker. Alternativ müssten sie beweisen, dass
sie an freien Projekten in der Schweiz mitwirken. Dann können sie für den
Zeitraum, in dem dieses Projekt läuft, eine Bewilligung beantragen und in
die Schweiz kommen. Aber das ist völlig unpraktikabel, wenn man bedenkt,
dass es in Basel insgesamt 55 Musiker aus Japan, Kolumbien, Amerika und
Israel betrifft. Der Aufwand und die Kosten wären zu hoch, um etwa für ein
zweiwöchiges Projekt anzureisen. Wir werden jetzt vom zuständigen Amt noch
bis August 2015 in Basel geduldet und müssen diese Zeit nutzen, um Kontakt
mit Politikern in Basel und Bern aufzunehmen und eine Lösung zu finden.
Warum ist Basel überhaupt so attraktiv für Musiker?
Ein Grund ist die Schola Cantorum Basiliensis, eine der ersten Hochschulen,
die Alte Musik und Historische Aufführungspraxis gelehrt hat. Das zieht
sehr viele Musiker aus aller Welt nach Basel. Auch die Musik-Akademie ist
weltberühmt. Es ist bekannt, dass Basel ein guter Ort für Musiker ist. Ich
habe mich dort immer sehr wohl gefühlt, vom ersten Tag an. Ich lebe jetzt
seit vier Jahren in Basel, in meiner kleinen Wohnung zwei Minuten zu Fuß
vom Rhein, wo meine Freunde sind, wo ich üben kann, wo ich einfach mein
Zuhause hab. Mein Platz ist dort.
Und in was für einem Umfeld arbeiten Sie?
Ich bin Lautenist und arbeite sehr viel mit den Profeti della Quinta. Das
ist ein Ensemble von sechs Musikern, fünf von uns kommen aus Israel, einer
aus Kanada, also sind wir alle von der Situation betroffen. Wir haben auch
andere Projekte, an denen noch mehr Musiker aus aller Welt beteiligt sind,
manche sind aus der Schweiz und aus der EU. Diese Projekte wären nicht
entstanden, wenn wir nicht vor Ort wären. Das bedeutet: Jobs, die durch
diese Projekte auch für Inländer und Europäer entstanden sind, wären ohne
uns einfach nicht mehr vorhanden.
Anfang 2014 hat die Schweiz per Volksabstimmung entschieden, dass die
Zuwanderung künftig durch Quoten begrenzt werden soll. Die Stadt Basel
hatte dagegen gestimmt. Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet Basel
jetzt den hochqualifizierten Zuwanderern die Aufenthaltsbewilligung
entzieht?
Basel war bis jetzt einer der wenigen Schweizer Kantone, die überhaupt
Aufenthaltsbewilligungen an Nicht-EU-Musiker vergeben. Das sagt schon etwas
über Basel aus. Ich denke, unsere Situation geht darauf zurück, dass der
ehemalige Chef des Amts für Wirtschaft und Arbeit (AWA) entlassen wurde,
weil er angeblich zu großzügig mit den Aufenthaltsbewilligungen war.
Deswegen haben jetzt die Mitarbeiter des AWA das Gefühl, dass sie härter
sein müssen. Dabei sind die Gesetze ziemlich offen formuliert, man kann sie
flexibel auslegen. Vielleicht hat es aber auch mit dem Zeitgeist in der
Schweiz zu tun. Ich befürchte, dass es gewisse Leute in Regierung oder
Bürokratie genauso wollen: Die Kultur in der Schweiz soll nur noch von
Schweizern und EU-Künstlern gemacht werden. Aber so wird jede künstlerische
Szene enorm beschädigt. Es zeigt auch, dass das AWA nicht versteht, was es
bedeutet, freischaffender Musiker zu sein. Denn ein freischaffender Musiker
nimmt anderen keine Arbeit weg, sondern baut neue Projekte auf.
Fünf der sechs Mitglieder Ihres Ensembles Profeti della Quinta sind
Israelis. Sie könnten auch nach Israel zurückgehen und sich ein neues
sechstes Bandmitglied suchen. Ist das eine Alternative?
Für mich derzeit nicht. Ich kann natürlich nicht für das Ensemble sprechen.
Aber ich lebe seit über zehn Jahren nicht mehr in Israel. Ich fühle mich in
Basel mehr zu Hause als irgendwo anders zuvor. In Israel habe ich immer
mehr das Gefühl, ein Fremder zu sein. Ich glaube, das ist normal, wenn man
so lange nicht mehr in seiner Heimat lebt. Was aber vielleicht noch
wichtiger ist: Die Szene für Alte Musik ist in Israel sehr klein. Es gibt
einfach nicht genug Leute, mit denen man zusammenarbeiten kann. Und es
fehlt auch das Gefühl, dass viel passiert und man sich austauschen kann. In
Basel gibt es das.
Antonia Stoll, die zuständige Beamtin vom AWA, hat letztens in einem
Interview gesagt: „Ich weiß nicht, ob die Musikszene so geschwächt wird,
und bin auch nicht überzeugt, dass man nicht entsprechend gute Musiker in
der Schweiz findet. Den Nachweis müssen die Arbeitgeber bringen.“ Wie gehen
Sie damit um, dass die zuständige Behörde offenbar keine Vorstellung von
der Lebensrealität freiberuflicher Musiker hat?
Ich respektiere die Leute für die Arbeit, die sie machen. Aber ich bin
nicht einverstanden, wenn sie glauben, zu wissen, wie sich ihre Vorgaben
auf die Musikszene auswirken werden. Unter den 55 Betroffenen sind etwa 30
Alte-Musik-Künstler, die Alte-Musik-Szene in Basel besteht nur aus etwa 150
bis 200 Musikern und. Das ist ein ziemlich großer Prozentsatz. Die
Musikszene wird auf jeden Fall beeinflusst werden. Das AWA hat gesagt: „Wir
haben Gnade vor Recht ergehen lassen“ – als wären wir Kriminelle.
Wie haben Sie die Lage vor der aktuellen Neuregelung erlebt?
Auch die bisherige Situation war sehr unbefriedigend. Es gab immer
Unsicherheit, weil wir unsere Bewilligung jedes Jahr verlängern mussten.
Aber es war erträglich, solange der alte Chef des AWA im Amt war. Der hat
verstanden, dass die Regeln den Menschen dienen sollen, nicht umgekehrt.
Und er hat verstanden, dass Basel Kultur braucht und dass Kultur auch
Ausländer braucht. Wir möchten nicht gegen das Amt arbeiten, sondern
zusammen mit dem AWA und dem Migrationsamt in Bern eine Lösung finden.
Ist es in Deutschland einfacher, als Musiker eine Aufenthaltsbewilligungen
zu bekommen?
Ein Kollege hat versuchsweise bei der Behörde in Weil am Rhein, auf der
anderen Grenzseite, nachgefragt. Angeblich ist es dort relativ einfach.
Aber das ist natürlich keine Garantie. Ich bin kein Europäer. Der Zeitgeist
in Europa und auf der ganzen Welt bewegt sich in Wellen und ist gerade
wieder ein bisschen fremdenfeindlich. Wenn ich jetzt eine Bewilligung in
Deutschland bekommen kann, bedeutet das nicht, dass ich für immer dort
bleiben kann. Deswegen ist es mir wichtig, meine Meinung zu äußern, denn
wenn ich jetzt sage: „Ihr wollt mich nicht, ich gehe“, dann kann ich auch
gleich nach Israel zurückgehen. Dort kann ich auf jeden Fall bleiben. Aber
wenn ich meinen Traum leben möchte – und das tue ich zurzeit in Basel –,
dann muss ich auch dafür kämpfen.
19 Dec 2014
## AUTOREN
Agnes Monka
## TAGS
Basel
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