| # taz.de -- Sängerin über Barockkomponistin Leonarda: „Gott liebt es, wie w… | |
| > Julie Comparini hat Isabella Leonardas wilde Texte und Kompositionen | |
| > erschlossen, um sie singen zu können. Manche sind 300 Jahre ungehört | |
| > geblieben. | |
| Bild: Musik von Frauen wurde aktiv vergessen: Julie Comparini musste Isabellas … | |
| taz: Wonach klingt Isabella Leonardas Musik, Frau Comparini? | |
| Julie Comparini: Wollen Sie die musikwissenschaftliche Antwort – oder eine | |
| persönliche? | |
| Beide, wenn’ s geht. | |
| Im Kontext ihrer Epoche ist Leonardas Stil ein bisschen konservativ. Das | |
| hängt sicher mit ihrer Lebenssituation zusammen: [1][Sie hat 1620 bis 1704 | |
| gelebt], aber Komposition wahrscheinlich in sehr frühen Jahren gelernt, | |
| vermutlich vom Kapellmeister an der Kathedrale von Novara, einem gewissen | |
| Gasparo Cassati. Ihre ersten Kompositionen sind in einer Sammlung von ihm | |
| mitveröffentlicht. Dann kam sie ins Kloster. Erst mit 50 Jahren hat sie | |
| begonnen, ihre Werke selbstständig herauszubringen. Die sind aber in einem | |
| Stil geschrieben, der da nicht mehr in Mode ist. | |
| Woran merkt man das? | |
| Der Trend in der Vokalmusik ging damals längst in Richtung Da-capo-Arie … | |
| … also Arien, die sich aus zwei Teilen zusammensetzen, wobei der erste am | |
| Ende wiederholt wird. | |
| Das war da die vorherrschende Gattung. Aber die findet sich bei Leonarda | |
| eben nicht. Ihre Solomotetten haben viele kurze, sehr abwechslungsreiche | |
| Sätze, die alle direkt aufeinander folgen. Ungewöhnlich war Isabella | |
| Leonarda durch die Virtuosität ihrer Kompositionen. Da ragt sie heraus. Und | |
| ungewöhnlich ist, dass sie sehr viel für Altstimme geschrieben hat. | |
| Glück für Sie! | |
| Ja. Denn Alt war [2][im 17. Jahrhundert wirklich nicht beliebt]. Man liebte | |
| hohe Stimmen, egal wer sie gesungen hat: Knabe, Frau, Tenor, Kastrat. Und | |
| dann mochte man noch sehr tiefe Bässe. Die Mittellagen aber werden eher | |
| vernachlässigt. Aber sie hat richtig tolle, richtig virtuose, richtig | |
| expressive Solomotetten speziell für Alt geschrieben. Und sehr viele | |
| davon. | |
| Hat sie selbst Alt gesungen? | |
| Über ihre Stimmlage fehlt jede Überlieferung. Sie gehörte [3][den Ursulinen | |
| an]. Das war ein Lehr-Orden. An das Kloster, in dem sie lebte, war daher | |
| eine Mädchenschule angeschlossen. Dort war sie Musiklehrerin, magistra | |
| musicae. Sie hat Gesang unterrichtet und wahrscheinlich auch Violine: Ihre | |
| einzigen Instrumentalkompositionen sind für Geige. Außerdem leitete sie den | |
| Chor und sicherlich auch die Instrumentalensembles des Klosters. Zudem war | |
| sie vernetzt mit anderen Abteien Norditaliens. Die haben alle auf sehr | |
| hohem Niveau Musik gemacht. | |
| Hinter Klostermauern? | |
| Die Nonnen waren nicht eingesperrt. Die nahmen in der Stadt und in der | |
| Region am kulturellen Leben teil, auch aktiv. Sie partizipierten durchaus | |
| auch an der institutionellen Macht der Kirche – gerade Leonarda als | |
| Äbtissin. | |
| Wie lange ist denn die Musik, die Sie jetzt aufführen, unerhört geblieben? | |
| Schwer zu sagen. Vielleicht bis zu 300 Jahre. | |
| … wären es am Ende Uraufführungen? | |
| Eher nicht. Wir können annehmen, dass Leonardas Werke mindestens in ihrem | |
| Kloster, aber wahrscheinlich auch anderswo gespielt worden sind. | |
| Wie kommt man darauf? | |
| Einerseits, weil sie ja gedruckt wurden. Andererseits hat sie auch | |
| Solostücke für Bassstimme komponiert. Das hat natürlich niemand in ihrem | |
| Kloster gesungen. Tenor, das geht noch, aber Bass eher nicht. Diese Werke | |
| wurden also auch für die Außenwelt geschrieben. Ab wann es keine | |
| Aufführungen mehr gab, weiß ich einfach nicht, und es lässt sich auch nicht | |
| sagen, was von ihr in den letzten Jahrzehnten einmal in einem Konzert | |
| gesungen wurde. Aber nach wie vor liegen sehr wenige ihrer Stücke in | |
| modernen Editionen vor – und Aufnahmen gibt es auch nur eine Handvoll. | |
| Singen Sie etwa aus alten Handschriften? | |
| Handschriften sind leider keine erhalten. Für dieses Konzert haben wir auf | |
| Faksimiles der Drucke des 17. Jahrhunderts zurückgreifen müssen. Die musste | |
| ich bei den Archiven und Bibliotheken in Italien und in England bestellen, | |
| in denen die Original-Ausgaben lagern und auf Mikrofilm vorliegen. Von der | |
| Basis aus haben wir alle Stücke für das Konzert neu ediert. | |
| Das Fehlen von Editionen macht [4][sehr viele Barockkomponistinnen still]: | |
| Warum? | |
| Na ja, die Musikwissenschaft ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts und | |
| dessen Denken hat sie auch in der Gegenwart nicht ganz hinter sich | |
| gelassen. Es ist geprägt von Ideen wie Kanon und Genialität. Diese Art der | |
| Wissenschaft hat sich für ungewöhnliche Komponisten kaum interessiert, und | |
| schon gar nicht für schaffende Frauen. Vielleicht hat es zusätzlich noch | |
| damit zu tun, dass Kammermusik weniger Aufmerksamkeit erzeugt als größere | |
| Orchesterwerke. Hat Leonarda zwar auch geschrieben. Aber musikalisch und | |
| dichterisch spektakulärer sind ihre Solomotetten. | |
| Was meinen Sie mit dichterisch? | |
| Oh, sie hat ihre eigenen Texte vertont. Das hat außer ihr fast niemand in | |
| der Musikgeschichte getan. Aber Leonarda hat fast 100 Solomotetten | |
| geschrieben, deren Texte sie selbst gedichtet hat. Und das kann auch eine | |
| praktische Hürde sein, weil es nicht so viele | |
| Kirchenlateinexpert*innen gibt, die diese wilden Texte vernünftig | |
| übersetzen könnten. | |
| Wilde Texte?! | |
| Oh ja. Das fängt schon bei der Sprache an. Diese Texte für ihre | |
| Solomotetten sind verfasst in einem Latein, das grammatikalisch und von der | |
| Wortwahl her sehr eigen ist. Zugleich sind sie alle aus einer zutiefst | |
| persönlichen, ausdrücklich weiblichen Ich-Perspektive geschrieben. | |
| Inhaltlich sind sie erst recht interessant. Sie zeigen eine stark bildhafte | |
| Glaubenswelt. In der treten Jesus und Maria als echte Menschen und | |
| leibhaftige Bezugspersonen auf, als zärtliche Mutter und als – sublimierter | |
| – Liebhaber. Und das in einer Intensität, die ist … – doch, man muss sch… | |
| sagen: die ist extrem. Um mal den Inhalt der Motetten des Konzerts | |
| zusammenzufassen: Wir leiden auf Erden und Gott liebt es, wie wir leiden. | |
| Das ist sein Wille, weshalb wir gerne leiden. Wir lieben das Leiden, und es | |
| fühlt sich gut an, wenn Jesus uns peinigt. Denn Jesus, der uns quält, ist | |
| der beste und treueste und tollste Liebhaber aller Zeiten. | |
| Das ist ja … schrecklich! | |
| Ja, aber auch faszinierend: Das Ausmaß an schwelgendem Masochismus und | |
| sublimierter Sexualität ist, [5][selbst für die immer extremistischen | |
| Verhältnisse des katholischen Barock], bemerkenswert. Dadurch gibt uns | |
| diese Dichtung einen Einblick sowohl in Leonardos eigenen Glauben als auch | |
| in die Vorstellungswelt eines Nonnenklosters ihrer Zeit. Der ist auch | |
| literaturgeschichtlich fast einzigartig: Die Schwestern haben sehr selten | |
| geschrieben. Wir erfahren also, wie die damals geglaubt und gelebt haben, | |
| wie sie ihr Verhältnis zu Jesus und Maria aufgefasst haben. Und dann hat | |
| sie eben noch Musik dazu geschrieben, die total virtuos diesen extremen | |
| Inhalt unglaublich toll rüberbringt. | |
| Ist Ihr antiquarisches Interesse an dieser Dichter-Komponistin feministisch | |
| motiviert? | |
| Halten Sie das Interesse an Kultur- und Musikgeschichte für bloß | |
| antiquarisch? | |
| Antiquarisch ist für mich kein polemischer Begriff …! | |
| Ich verbringe den größten Teil meines Lebens, meine ganze Karriere mit | |
| Alter Musik. Diese Auseinandersetzung mit der Musik und einer Kultur, mit | |
| der Gedankenwelt einer anderen Zeit, finde ich einerseits persönlich | |
| bereichernd. Ich halte es aber andererseits für wichtig, dass sich unsere | |
| heutige Welt mit diesem Erbe auseinandersetzt, es in moderne Editionen | |
| überträgt und kommentiert. So fern uns gerade Leonardas Worte sind, so nah | |
| sind uns die Stücke doch auch: Sie handeln von Leiden, seelischen Krisen, | |
| Hilferufen, die nicht erhört werden – aber auch von Hoffnung und von | |
| Zuversicht, also um Wege, wie man mit solchen Schmerzen umgehen kann. Sie | |
| handeln von universellen Erfahrungen, denen jeder Mensch ausgesetzt ist. | |
| Gerade weil sie diese durch die Linse der barocken, katholischen Theologie | |
| betrachtet, die uns so fremd ist, ermöglicht das, neu nachzudenken über den | |
| Umgang mit solchen Emotionen. | |
| 20 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://komponistinnen.org/artists/leonarda-isabella/ | |
| [2] /Alte-Musik-Fest-Friedenau/!5631796 | |
| [3] http://www.orden-online.de/wissen/u/ursulinen/ | |
| [4] https://komponistinnen.org/cat/epoche/barock/ | |
| [5] https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-130781 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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