# taz.de -- Thomas Albert über alte Musik: "Plötzlich ist die Renaissance nic… | |
> Thomas Albert, Chef des Bremer Musikfestes, erklärt, warum historische | |
> Aufführungspraxis so faszinierend ist. | |
Bild: Findet den Begriff "alte Musik" gar nicht mehr so gut: Thomas Albert. | |
taz: Herr Albert, wird klassische Musik erst durch historische | |
Aufführungspraxis schön? | |
Thomas Albert: Ich finde schon. Das liegt vor allem daran, dass diese Art | |
des Musizierens neue Klangschattierungen bietet - nicht nur wegen der | |
Renaissance- und Barock-Instrumente wie Gambe, Laute, Traversflöte, die | |
ohnehin anders klingen als Zeitgenössisches. Teil des Faszinosums ist auch, | |
dass sie "mitteltönig" gestimmt sind. Das ist eine Frequenz, die wir als | |
besonders "rein" und harmonisch wahrnehmen. | |
Bemerkt der heutige Durchschnittsbürger das wirklich? | |
Wenn mich Studenten das fragen, sage ich: Wir stimmen jetzt mal unser | |
Streichquartett auf diese Art durch. Das Phänomen ist: Wenn Sie das einmal | |
gemacht haben, werden Sie es nicht wieder los. Sie entwickeln ein Gefühl | |
dafür, ob die Akkorde stimmig klingen. Das ist Psychologie oder was auch | |
immer. Man hört sich ganz schnell ein und ist dann positiv vorgeprägt. | |
Auch die Zuhörer? | |
Ja, und zwar ohne belehrenden Zeigefinger, sondern durch das Tun. Wir | |
spielen etwas und sagen eben nicht: Hör da jetzt mal besonders hin! Sondern | |
wir lassen die Musik wirken. Mit dem Ergebnis, dass die Leute hinterher | |
sagen, das klingt anders. Und beim dritten Mal fragen sie, was ist da | |
anders? Dann können wir sagen: Es könnte an der Klangfarbe liegen. Aber wir | |
geben nur Hinweise. Wir sagen nicht, dass das ein | |
musikalisch-mathematisches Gesetz ist. Denn die Vermittlung eines | |
qualitativen Wertes geht viel subtiler vor sich. Und die Suggestion dieser | |
Intonationsmethode ist so stark, da kommt keiner mehr raus. | |
Wie sind Sie hineingekommen? | |
Unter anderem durch Nikolaus Harnoncourt, einen der Begründer der | |
historischen Aufführungspraxis. Als ich ihn erstmals ein Stück von Bach auf | |
historischen Instrumenten spielen hörte, war das ein echtes | |
Schlüsselerlebnis. Das waren Klangfarben, die alles in den Schatten | |
stellten. | |
Worin genau bestand das Faszinosum? | |
In der Summe: dem Wissen um Klangfarben und Tempi aus der jeweiligen Zeit. | |
Denn das ist ja keine Geheimniskrämerei, sondern historische | |
Aufführungspraxis bedeutet zunächst Wissen um handwerkliche Dinge. | |
Natürlich kommen auch emotionale Erlebnisse dazu. Ein solches hatte ich | |
durch Sigiswald Kuijken, meinen späteren Lehrer. Als er seine Geige aus dem | |
17. Jahrhundert stimmte und dabei so über die Saiten strich, als ob bei | |
einem Sänger der Atem strömte: Das hat mich tief berührt. Da dachte ich: | |
Hier bin ich an der Quelle aller Musik angekommen. | |
Bedeutet historische Aufführungspraxis für Sie Demut? | |
Das Wort ist mir zu groß. Es gibt viele Leute, die etwa vor Bachs Musik | |
demütig in Ehrfurcht erstarren. Sie betrachten diese Musik als Monument, | |
das sie anbeten. Aber das ist ja eine Erstarrung, denn sie interessieren | |
sich nicht für inhaltliche, fachliche, aufführungspraktische Fragen. | |
Erstarren nur die Zuhörer? | |
Nein, das kann auch Musiker betreffen. Deshalb sind die | |
Aufführungspraktiker mit sehr ernst zu nehmenden Musikern in einen kranken | |
Konflikt geraten. Krank insofern, als sie nicht auf derselben Ebene | |
diskutieren. Denn die Anbetungsebene fehlt den Leuten, die sich für | |
historische Aufführungspraxis interessieren. Dabei erfassen sie die Tiefe | |
eines Werks fast noch intensiver. Denn wer sich über ein größeres Spektrum | |
an Klangfarben Gedanken macht, hat ganz andere Möglichkeiten der Kontraste | |
und geht anders an die Tiefe und Spiritualität eines Musikstücks heran als | |
der Ehrfürchtige. Die historische Aufführung geht auf eine verstandene, | |
aufgeklärte Weise an ein Werk heran. Und für mich ist das die aktuellste | |
Form im Umgang mit historischer Musik. | |
Kann es aber die "objektiv richtige" historische Aufführung geben? Ohne | |
jeden Hauch individueller Interpretation? | |
Die Interpretation ist selbstverständlich noch da. Wir reden nicht über | |
Prozente, aber die ist doch da. Jeder spielt ein Stück anders, das ist doch | |
klar. Voraussetzung ist aber, dass ich um die Parameter weiß, die es gab: | |
Welches waren die Bausteine? Wenn ich das weiß, kann ich damit umgehen - | |
natürlich mit meinem heutigen Atem und Rhythmus. Wir rennen schneller, wir | |
reden schneller, wir sprechen anders, weil wir eine andere Zeit haben. | |
Gehen wir mal in die Bremer Sozialbehörde des Jahres 2006. Da haben Sie mit | |
Musik um staatliches Geld für Ihre Akademie für Alte Musik geworben. | |
Ja, das war irre! Ich hatte natürlich vorher Verbindungen geknüpft, hatte | |
schon Räume in einer alten Schule besichtigt, hatte ein eigenes Ensemble. | |
Aber wir hatten keinen Cent. Das Wort "Sponsor" gabs nicht, und der Bremer | |
Kulturhaushalt gab es nicht her. Da hörte ich, dass es beim Sozialsenator | |
Förderprogramme für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gab. Denn ich brauchte ja | |
Personal. Und um das letztlich durchzupauken, bin ich in den 11. Stock des | |
Bremer Hochhauses, wo die Sozialbehörde, die Geige unterm Arm, und habe was | |
vorgespielt. | |
Einfach auf dem Gang? | |
Nein, ich bin zu der zuständigen Sachbearbeiterin gegangen, und als sie | |
fragte, was an Alter Musik anders sei, hab ich vorgespielt. Während ich | |
spielte, gingen in diesem langen Gang die Türen auf, und alle kamen und | |
lauschten. Am Ende sagte die Sachbearbeiterin, Sie bekommen das. | |
Würden Sie heute auf dieselbe Art Geld akquirieren? | |
Ja, natürlich. | |
Haben Sie schon? | |
Nein, im Moment ist es nicht nötig. Aber ich würde es immer wieder tun. | |
Denn wenn man für etwas brennt, hat es keinen Sinn, berechnend zu sein, | |
sondern dann muss man so sein, wie man ist. Und sagen: Ich liebe das. | |
Lieben Sie das vielleicht auch? Folgen Sie auch diesem Weg? | |
Wer folgt Ihrem Weg? Ihr Bremer Musikfest gilt einigen als | |
großbürgerlich-elitäres Event... | |
... aber zu kleinbürgerlichen Preisen! | |
Aber auf welche Hörer zielt das Programm? | |
Sie können jetzt natürlich überspitzen und sagen: Vom Programm her ist das | |
für eine bestimmte Schicht gedacht. Dagegen verwahre ich mich! Wir sind | |
komplett offen- allein über die Preise. Seit Jahren können zum Beispiel | |
Schüler und Studenten zwischen 6 und 22 Jahren für 5 oder 10 Euro ins | |
Konzert. | |
Wie gut werden diese Günstig-Karten genutzt? | |
Ich weiß es nicht genau. Ich beobachte aber, dass in den Schulen, die ja | |
von solchen Programmen profitieren könnten, oft die Lehrer als erstes | |
sagen, dann muss ich 3 Stunden mehr Dienst tun. Andererseits frage ich | |
mich, warum kann man Schulen in so genannten Problemstadtteilen nicht | |
verpflichten, solche Angebote anzunehmen? | |
Sprechen wir über das Programm des diesjährigen Musikfestes: Warum besteht | |
es nicht zu 100 Prozent aus Alter Musik, die Ihnen so am Herzen liegt? | |
Weil jede Musik, die nicht aktuell ist, als Alte Musik gelten kann. | |
Der Komponist muss gestorben sein, und das genügt? | |
Nein, er kann ja wunderbar leben und vor 50 Jahren schon Klassiker | |
geschrieben haben. Aber grundsätzlich finde ich die Begriffe "Alte Musik" | |
und "Neue Musik" falsch. Alte Musik ist die, die nicht aktuell heute | |
entsteht. Ich will da keine Schubladen. Denn was ist letztlich "neu"? Wenn | |
wir heute einen Monteverdi aufführen - mit Renaissance- Zink, Laute und | |
Orgel: Dann hören Sie einen Monteverdi, wie Sie ihn noch nie gehört haben. | |
Und die Leute gehen später raus und sagen: Ich habe etwas ganz Aktuelles, | |
Frisches erlebt. In solchen Momenten ist Alte Musik ganz aktuell. Da spüren | |
Sie, das 10 Generationen nichts sind: Die haben ihren Gulasch ganz ähnlich | |
gekocht wie wir, um es mal platt zu sagen. Und ich glaube, diese Nähe | |
funktioniert aufgrund der Information - der wissenden Musiker. | |
Gibt es eigentlich eine Sehnsucht des Menschen nach dem archaischen Klang? | |
Ich kann es mir gut vorstellen. Ich glaube, dass viele Dinge in uns sind - | |
durch unsere Geschichte, durch Gene und anderes. Dass viel gewachsen ist, | |
von dem wir nicht wissen, wo es herkommt. Wo wir uns persönlich berührt | |
fühlen und eine Vertrautheit empfinden. Wo der Mensch spürt: Ich bin | |
gemeint. Das können Sie nicht in Worte fassen. Aber das gibt es. | |
Ist Musizieren für Sie eine Art Gottesdienst? | |
Ja. | |
Wie heißt der zugehörige Gott? | |
Das frgaen Sie mich jetzt nicht! Das ist genau der Punkt, an dem das | |
Nachfragen an Grenzen stößt. Ich kann nur eins sagen: die Grenze zur | |
besonderen Erfahrung von Musik wird überschritten, wenn Sprachlosigkeit | |
eintritt. Das kann passieren, wenn Sie die spätgotische Orgel in Rysum bei | |
Emden röhren hören oder wenn ein guter Akkordeonist in Hamburgs | |
Alsterarkaden spielt. Oder bei einem Auftritt von Robbie Williams. | |
Musikfest Bremen: 24.8. bis 14.9.2013 | |
2 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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