# taz.de -- Bürgerkrieg in Libyen: Zurück zum Anfang | |
> In Libyen gibt es zwei Regierungen, zwei Fronten und viele divergierende | |
> Interessen. Viele haben Angst vor einer Spaltung des Landes. | |
Bild: Die Kämpfer der Ansar-Scharia-Miliz haben noch zwei westliche Stadtteile… | |
BENGASI/ TRIPOLIS/ TUNIS taz | Dumpfe Einschläge am Stadtrand lassen alle | |
Sinne auf Alarmmodus schalten. Eigentlich war in den letzten Wochen im | |
Stadtzentrum so etwas wie Normalität eingekehrt. Seitdem im Oktober die | |
libysche Armee unter Führung des pensionierten Generals Khalifa Hafter die | |
Kämpfer der salafistischen Ansar-Scharia-Miliz vertrieben hat, ist Bengasi | |
wieder eine befreite Stadt. Die Islamisten halten noch zwei westliche | |
Stadtteile besetzt. | |
Nun ziehen Freiwillige durch die Straßen und räumen verkohlte Autowracks | |
auf Lastwagen. Hier in Bengasi, im Osten des Landes, hatte 2011 der | |
Aufstand gegen Diktator Muammar Gaddafi begonnen. Am „Platz der Armee“ | |
hinter dem alten Königspalast schuftet das Team von Mohamed Jaouda. Auch | |
während der Kämpfe bepflanzte die Gruppe um den Lehrer Parks, baute | |
Spielplätze oder reparierte die Straßenbeleuchtung. | |
„Es scheint von außen vielleicht absurd“, sagt Jaouda, „aber wir halten … | |
von beiden Seiten fern und bringen einfach nur zum Ausdruck, dass Bengasi | |
seinen Bürgern gehört.“ Beim Anblick des völlig zerstörten Nouran-Hotels, | |
wo sich Scharfschützen der Ansar-al-Scharia verschanzt hatten, kommen ihm | |
die Tränen. „Eigentlich hatte die Nato im März 2011 ja in Libyen | |
interveniert, damit aus Bengasi kein zweites Beirut wird“, sagt er | |
fassungslos. | |
Vor einer Tankstelle hat sich eine lange Schlange gebildet. Viele stehen | |
einen ganzen Tag an, um ihre Gaszylinder zum Kochen aufzufüllen. Dass die | |
Willkür an den Kontrollpunkten der Islamisten Vergangenheit ist, finden | |
fast alle gut. Aber auch die Angst vor einer Militärdiktatur nach | |
ägyptischem Vorbild macht die Runde. | |
„Das intellektuelle Zentrum Libyens ist zerstört“, sagt ein Lehrer, der | |
seinen Namen nicht nennen möchte. Mehrere Raketen haben die Universität | |
getroffen und Tausende Unterlagen zerstört. Insgesamt 400.000 Menschen | |
haben seit den Kämpfen im Sommer ihre Heimat verlassen, außer in der etwa | |
160 Kilometer östlich gelegenen Kleinstadt Beida hört man nun hauptsächlich | |
in Ankara und Kairo den Bengasi-Dialekt. | |
## Eine Alternative zur Milizenwirtschaft | |
Der Konflikt findet dieses Mal – anders als 2011 – unter Ausschluss der | |
Weltöffentlichkeit statt, denn erst seit Kurzem ist es überhaupt möglich, | |
wieder nach Bengasi zu gelangen. Trotz der Zerstörungen ist dort wieder | |
Hoffnung auf einen Neuanfang zu verspüren. Aber auch die Angst vor einer | |
Spaltung des Landes. | |
Denn Libyen ist zweigeteilt – wie schon im Revolutionsjahr 2011. Im Sommer | |
2014 stürmten Milizen aus der Hafenstadt Misrata die Hauptstadt Tripolis | |
und installierten dort die Regierung von Omar Hassi. Seine „Fajr“-Bewegung | |
(Morgenröte) beherrscht de facto den Nordwesten Libyens. In Bengasi und der | |
etwas weiter östlich gelegenen Hafenstadt Tobruk hat dagegen die im Juli | |
gewählte Regierung von Premier Abdullah Thinni das Sagen, die auch | |
internationale Anerkennung genießt. Sie verteilt das Geld im ganzen Land, | |
70 Prozent der Libyer erhalten ihr Einkommen vom Staat – auch viele der | |
Milizen, die sich gegenseitig bekämpfen. | |
„Deswegen wollen wir die Leute motivieren, sich für ein Gegenmodell zu der | |
Milizenwirtschaft zu engagieren“, sagt Mohamed Jaouda aus Bengasi. In | |
seiner Gruppe finden sich Hausfrauen, Soldaten und Passanten oft spontan | |
zusammen. „Wir können zusammenleben“, lautet ihr Grundsatz, „es ist die | |
Politik, die alle kaputt macht.“ | |
## Angst vor Denunziation | |
In der tausend Kilometer westlich gelegenen libyschen Hauptstadt herrscht | |
angespannte Ruhe. Seit dem Sommer haben dort die Milizen aus Misrata das | |
Kommando übernommen. Die Hafenstadt ist mit dem Lisco-Stahlwerk, dem | |
Freihafen und zahlreichen Privatunternehmen der einzige Ort in Libyen, in | |
dem es eine nennenswerte Warenproduktion gibt. Gaddafi setzte bei Beginn | |
der Rebellion alles daran, Misrata von den Aufständischen zurückzuerobern. | |
Drei Monate dauerte die Belagerung, die mit einem Sieg der Revolutionäre | |
endete. Viele Misratis sind heute davon überzeugt, dass die alten | |
Regimeanhänger in Tripolis wieder das Sagen haben. | |
„Vor drei Jahren haben alle ’Libya hurra‘ gerufen, doch solidarisch sind | |
die meisten nur mit ihrer Stadt oder Nachbarschaft“, sagt Youssef Khatali, | |
der sich mit den libyschen Stämmen und ihren Machtstrukturen beschäftigt. | |
„Es gibt schlichtweg wenig Erfahrung im Zusammenleben der Regionen.“ Oft | |
sitzt der Mittfünfziger mit Freunden am Algerien-Platz, im Zentrum der von | |
den italienischen Kolonialherren im Art-Déco-Stil hochgezogenen Altstadt. | |
Seit dem Sommer wird in Tripolis über Politik nicht mehr diskutiert. Kritik | |
an den Besatzern aus Misrata kann schnell zur Verhaftung führen. Wie zu | |
Gaddafis Zeiten werden Hinweise auf Oppositionelle üppig vergütet. | |
Aber die Cafés sind voll, auf den Straßen schieben sich zur Rushhour | |
Blechkolonnen wie eh und je in die Vororte. Die allgemeine Angst ist nur | |
auf den zweiten Blick zu spüren. | |
An den Wänden am Algerien-Platz kleben kleine Zettel, mit denen die Familie | |
des 12-jährigen Saif Hassan verzweifelt nach ihrem Sohn sucht. Der junge | |
Pfadfinder verschwand letzte Woche auf dem Nachhauseweg. Immer wieder | |
werden Geschäftsleute oder deren Kinder entführt, um Lösegeld zu erpressen. | |
Die meisten Diplomaten und ausländischen Firmen sind inzwischen nach Tunis | |
geflüchtet. | |
## Neid auf Tunesien | |
Die tunesische Hauptstadt ist mittlerweile zum neutralen Treffpunkt für die | |
verfeindeten Lager geworden. Vor Weihnachten findet hier ein | |
Demokratie-Workshop der Unesco für Aktivisten aus ganz Libyen statt. | |
Respektvoll horchen junge Aktivisten aus Misrata den Erzählungen von | |
Abdlaziz al-Ghazali, einem Bürgerrechtler aus Derna. Sein Heimatort befinde | |
sich fest in der Hand von islamistischen Milizen, die sich mehrheitlich dem | |
„Islamischen Staat“ angeschlossen hätten, berichtet er. Immer wieder sind | |
Videos von Exekutionen im Fußballstadion von Derna aufgetaucht. Seit der | |
letzten Woche sei sogar Rauchen als unislamisch verboten. | |
Einerseits fühlt sich der 25-jährige al-Ghazali geehrt von der Einladung zu | |
dem Workshop geehrt, andererseits ist er skeptisch. „Während die | |
internationale Gemeinschaft Libyen mit Workshops als eigentlich gar nicht | |
existente Zivilgesellschaft stabilisieren will, haben die religiösen Kräfte | |
durch pure Machtpolitik das Ruder an sich gerissen“, findet auch ein | |
anderer Teilnehmer aus der Sahara-Stadt Sebha. „Bei uns im Süden sind die | |
Milizen der einzig verbliebene Arbeitgeber, das ist das Problem.“ | |
Amina Megherbi ist als ehemalige Parlamentsabgeordnete eingeladen, die | |
jungen Aktivisten zu beraten. Immer wieder schaut sie auf ihr Smartphone, | |
in Erwartung neuer Nachrichten aus Bengasi. Die Armee hat den Stadtteil um | |
ihr Haus evakuiert, ihr Mann harrt im Keller aus, um Plünderer zu verjagen. | |
## Eigene Konzepte gesucht | |
Wie konnte der Übergangsprozess in Libyen so schiefgehen? „Es ist unsere | |
Unerfahrenheit und die gute Organisation der Muslimbrüder, der Vertreter | |
des politischen Islam“, sagt Mafida, eine libysche Aktivistin, die wie | |
Meghrebi einst gegen Gaddafi kämpfte, obwohl in ihrem Heimatort Beni Wali | |
fast alle für ihn waren. „Es sind zu viele persönliche Rechnungen offen.“ | |
Der Berber-Aktivist Mazir Buzakhar nutzt die Tage in Tunis, um | |
Grundlagenrecherche zu betreiben. Libyer wissen zu wenig über ihre | |
Geschichte, glaubt er. Viele aktuelle Allianzen beruhten auf historischen | |
Konflikten, die niemals verarbeitet wurden, glaubt der 30-Jährige. Einen | |
Frieden wird es nur mit der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen geben.“ Mit | |
seinem Rucksack durchforstet er die Büchereien in Tunis. „Nur mit Workshops | |
kann man den tiefgreifenden Traumata nicht beikommen. Wir müssen eigene | |
Konzepte entwickeln.“ | |
Voller Anerkennung schaut die libysche Workshop-Gruppe am Rand der Avenue | |
Bourghiba den hupenden Autokorsos mit den rot-weißen Flaggen nach. Die | |
Tunesier haben sich am Sonntag in der Stichwahl für das Präsidentenamt mit | |
Beji Caid Essebsi für ein säkulares Staatsmodell entschieden. | |
Die Ex-Abgeordnete Megherbi glaubt, dass sich die Situation in Libyen | |
zunächst verschlimmern wird – zu viele Konflikte an allen Fronten, zwischen | |
Säkularen, Islamisten, Stämmen. Auf der Suche nach Nachrichten aus Bengasi | |
stößt sie auf dem Handy auf ein Interview mit dem italienischen | |
Außenminister Paolo Gentiloni. Italien sei bereit, mit dem Segen des | |
UN-Sicherheitsrates militärisch zu intervenieren, sollte die Lage weiter | |
eskalieren. „Wir müssen verhandeln, nicht kämpfen“, sagt sie leise. | |
27 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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