# taz.de -- Minderheitenrechte in Libyen: Couchsurfing und Kalaschnikow | |
> „Gaddafi ist zwar weg, aber die Mechanismen seiner Regierung sind | |
> geblieben“, sagt ein junger Mann frustriert. 70 Prozent aller Libyer sind | |
> unter 30. | |
Bild: Explosive Lage: Die Besetzer der ENI-Anlage bei Zuwara haben ihre Aktion … | |
ZUWARA taz | Der einstündige Weg von Zuwara nach Tripolis führt an einer | |
Handvoll Checkpoints vorbei. „Wo kommt ihr her?“, raunzt der halbstarke | |
Uniformierte am Kontrollpunkt in Sabrata. „Zuwara“ sagte Radi Gawaz leise, | |
vorausahnend, dass dem übellaunigen Posten die Antwort nicht gefallen wird. | |
„Umkehren“ lautet dann auch der knappe Befehl, die Kalaschnikow macht jede | |
Widerrede müßig. | |
Radi Gawaz und sein Freund Rooney Dhan zucken ratlos mit den Schultern und | |
fahren durch die dunkle Nacht zurück in ihren Heimatort Zuwara, der | |
einzigen Berberstadt an Libyens 2.000 Kilometer langer Mittelmeerküste. | |
Ärger an Kontrollstellen sind die beiden 22-Jährigen gewöhnt, die während | |
der Revolution ihre Stadt gegen Einheiten des Gaddafi-Regimes verteidigt | |
haben. Zuwara sei von arabischen Ortschaften umgeben, die aufseiten des | |
Regimes gestanden hätten, berichten sie. Der Kultur der Berber oder | |
Amazigh, wie sie auch heißen, stehen die arabischstämmigen Libyer | |
gleichgültig bis feindlich gegenüber. | |
„Die Revolution ist erst dann vorbei, wenn unsere Minderheitenrechte in der | |
Verfassung verankert sind“, bekräftigt Mohaned Dhan, dem Freunde aufgrund | |
seiner geradlinigen Art den Namen des bulligen englischen Stürmers Wayne | |
Rooney verpasst haben. Viele in Zuwara haben Spitznamen, da ihnen ihre | |
Eltern arabische Namen geben mussten. Die eigene Sprache Tamazight war | |
unter Gaddafi unerwünscht. | |
## Der Traum zu reisen | |
Mohaned Dhan arbeitet in einem Reisebüro in Tripolis. Den Traum zu reisen | |
hat er sich im vergangenen Jahr zum ersten Mal erfüllt. Er fuhr zu einem | |
internationalen Couchsurfing-Treffen nach Rom – auf Krücken. „Ich war bei | |
einem der Angriffe über Trümmer gestolpert und brach mir das Bein. In | |
Italien hatte man wohl noch nie einen jungen Libyer gesehen, also musste | |
ich den ganzen Abend von der Revolution erzählen.“ Die ersten | |
Rucksackreisenden aus Italien hat er vor ein paar Wochen in Tripolis | |
empfangen. „Mein Traum ist es, aus Libyen ein tolerantes Land zu machen.“ | |
Radi Gawaz und Rooney Dhan unterscheiden sich optisch kaum von ihren | |
Altersgenossen nördlich des Mittelmeers. Jeans, Smartphone, im brandneuen | |
Audi von Radis älterem Bruder läuft der US-Rapper Eminem auf Tripolis Fm. | |
Euphorie schwingt in ihren Erzählungen über die letzten drei Jahre mit, die | |
sie und ihr Land völlig verändert haben. Auch Radi Gawaz hat seine Krücken | |
erst vor Wochen in die Ecke gelegt. Ein Teil seines Fußes musste nach | |
seiner Gefangennahme durch die Gaddafi-Armee amputiert werden, er wurde | |
gefoltert. „Ich habe damals im Krankenhaus von Zuwara gearbeitet, und die | |
Soldaten wollten wissen, wo sich unsere Kämpfer verstecken“, sagt er. Die | |
Packung Schmerzmittel in seiner Tasche rettet ihn über den Tag. Heute | |
arbeitet er als Fernsehreporter. | |
Wie in ganz Libyen gibt es in Rooneys und Radis Leben zwei Wirklichkeiten, | |
die für Außenstehende nur schwer zusammenpassen. Krieg und Couchsurfing, | |
unbeschwerte Wochenenden am Strand und Kalaschnikows im Kofferraum. | |
## Berberaktivisten besetzen Gasförderanlage | |
Radi Gawaz’ Telefon klingelt unaufhörlich. Die Redaktion von Ahrar TV in | |
Tripolis wartet auf seinen Bericht von der Besetzung des Gas- und | |
Ölterminals Melittah des italienischen Konzerns ENI, das am Stadtrand von | |
Zuwara liegt. Die Regierung in Rom ist alarmiert. Ein Viertel der | |
Gasversorgung Italiens läuft durch die „Green Stream“ genannte Pipeline, | |
die vom libyschen Melittah nach Sizilien führt. 50 junge Berber aus Zuwara | |
haben bereits im November das Gelände besetzt und die Gaslieferung | |
gestoppt. „Bis der Kongress unsere Forderungen anerkennt“, sagt ihr | |
Anführer Ayoob Sufyan. | |
Beim Besuch der Journalisten ist Anspannung zu spüren. Vertreter der | |
Zivilgesellschaft aus Sabrata, Aldschelat und Dschmel sind angereist und | |
fordern das Ende der Besetzung. Zu Fuß ziehen kleine Gruppen unbewacht an | |
den zischenden Gasleitungen und den Luftabwehr-MGs der Zuwaris vorbei. | |
Ayoob Sufyan ist wie viele libysche Aktivisten alles in einem: | |
Radiojournalist, Jung-Politiker und nun so etwas wie ein militärischer | |
Anführer. Mit seinen 24 Jahren war er bei den Parlamentswahlen im Sommer | |
2012 der landesweit jüngste Kandidat. Nur knapp geschlagen von Nouri | |
Abusahmein, Exmanager der Chemiefabrik von Zuwara und zurzeit Präsident | |
Libyens. Auch Abusahmein ist Berber, unterstützt die Kampagne der | |
Aktivisten aber nicht. „Weil er Muslimbruder ist“, behaupten einige | |
Besetzer auf dem ENI-Gelände. | |
Ayoob Sufyan hält nichts von Spekulationen, ihm geht es nicht nur um | |
Minderheitenrechte. „70 Prozent der Libyer sind unter dreißig und sowohl im | |
Kongress wie in der Regierung nicht vertreten. Die junge Generation hat in | |
den letzten drei Jahren den Glauben an den politischen Prozess verloren.“ | |
Als Minderheit müsse man die Grundrechte nun eben mit anderen Mitteln | |
durchsetzen, begründet er die Besetzungsaktion. | |
## "Das Öl gehört nicht nur euch" | |
Ayoob Sufyan fährt mit dem Hauptstadt-Kollegen Radi Gawaz über das | |
gespenstig leer wirkende Gelände der ENI. Die ausländischen Arbeiter | |
bleiben in ihren Unterkünften. Es riecht nach Schwefel, aus den Zuleitungen | |
der riesigen Gastanks dampft und zischt es. Schilder warnen vor | |
Explosionsgefahr. „Ein Angriff auf uns wäre eine Katastrophe für die ganze | |
Region“, beruhigt sich Ayoob Sufyan selbst. | |
Vor dem Haupttor stehen Pick-ups aus Zuwara, junge Berber diskutieren | |
heftig mit den arabischstämmigen Demonstranten. „Das Öl gehört allen | |
Libyern, nicht nur euch“, schimpft ein älterer Mann in traditioneller | |
Kleidung auf die Besetzer in Tarnjacken ein. Die ungehaltenen Bürger aus | |
den Nachbarorten wollen, dass die Berber abziehen. Denn die Regierung droht | |
allen Besetzern im Land mit dem Einsatz der Armee. | |
Ayoob Sufyan versucht, die Gemüter zu beruhigen, zusammen mit Younes Nanis | |
leitet er die Aktion. Die beiden wollen erreichen, dass der Kongress ihre | |
Sprache Tamazight anerkennt. „Alle Fragen zur künftigen Identität Libyens | |
sollten in der Verfassungskommission im Konsens und nicht im | |
Mehrheitswahlrecht entschieden werden. Die Minderheiten haben dort drei | |
Vertreter und hätten dann ein Vetorecht“, erklärt Younes Nanis „Nach | |
jahrzehntelanger Arabisierung werden wir nicht länger auf faule Kompromisse | |
warten.“ | |
## Der Ältestenrat interveniert | |
Als das Chaos auf dem Gelände größer wird, fordern die Besetzer die | |
Demonstranten zum Verlassen des Geländes auf. „Sie haben Waffen in ihren | |
Autos“, warnt ein Milizionär. An einem Checkpoint bei Sabrata sollen | |
Kämpfer der islamistischen Omar-Muktar-Miliz Panzerfäuste und MG-Munition | |
in Pick-ups laden. Als Ayoob Sufyan davon erfährt, holt er seine Uniform | |
von zu Hause. „Jetzt könnte es blutig werden“, sagt er. | |
Doch es kommt anders. Die Ältesten der sieben westlibyschen Berberstädte | |
treffen sich zwei Stunden später und entscheiden, sich vom ENI-Gelände | |
zurückzuziehen. „Wir wollen kein Blut an unseren Händen haben“, erklärt | |
Ghali Twini vom Lokalrat Zuwara. | |
„Gaddafi ist zwar weg , aber die Mechanismen seiner Regierung und die | |
Vorurteile sind geblieben“, erklärt später Younes Nanis. „Wer hätte | |
gedacht, dass das größte Problem am Gaddafismus das Fehlen von Gaddafi sein | |
würde?“ | |
## Abstimmung über Minderheiten verschoben | |
Die Besetzer haben das Faustpfand ENI nur ungern aus der Hand gegeben. „Der | |
von Konservativen dominierte Kongress wird ohne Druck auf unsere | |
Forderungen nicht eingehen“, prophezeit Younes Nanis. Eine Abstimmung über | |
die Minderheitenfrage fand aufgrund bewusst fernbleibender Abgeordneter | |
bisher nicht statt. | |
An seinem Arbeitsplatz bei einer Versicherung in Tripolis wartet | |
Hobbymusiker und Freizeitaktivist Younes Nanis die Entwicklung ab. Zusammen | |
mit Rooney Dhan, Ayoob Sufyan und Radi Gawaz erörtert er die Lage. „Es ist | |
wie zu Beginn der Revolution, sagt Rooney beglückt. Seine Kameraden nicken. | |
„Nun ist eine Revolution der Vernünftigen nötig.“ | |
Noch warten sie ab. Die Sicherheitslage hat sich weiter verschlechtert, | |
erst vergangene Woche wurden zwei picknickende Ausländer ermordet am Strand | |
bei Sabrata gefunden. In der Stadt hat sich in den letzten Wochen ein | |
Ableger der Islamistenmiliz Ansar Scharia etabliert, die offen für ein | |
nordafrikanisches islamisches Kalifat und gegen demokratische Wahlen | |
eintritt. Die Islamisten nutzen geschickt das Machtvakuum, ihr Einfluss in | |
Libyen wächst. | |
## Kein blinder Aktionismus | |
Seit Ende der Revolution macht das Fehlen staatlicher Strukturen den | |
Libyern zu schaffen, Korruption und Zentralismus lähmen das Land. So | |
versuchen Stämme, Städte und die unter Gaddafi unterdrückten Minderheiten | |
ihre Interessen – gegeneinander – durchzusetzen. Unterschiedliche | |
Gruppierungen halten Ölförderanlagen, Häfen und Pipelines besetzt, um die | |
Übergangsregierung zu Kompromissen zu zwingen. Die Tuareg in Obari wollen | |
die libysche Staatsbürgerschaft, die Föderalisten in der Cyreneika-Provinz | |
mehr Mitsprache und die Tobu-Minderheit in Ribidschana den Anschluss an das | |
Strom- und Wassernetz. Seit dem vergangenen Sommer führt das politische | |
Patt zu einem Stillstand der Ölexporte, die über 90 Prozent des | |
Staatsbudgets ausmachen. | |
Am Wochenende überstand Premier Ali Zeidan erneut ein Misstrauensvotum. Die | |
starken Milizen setzen ihn immer stärker unter Druck, sogar aus seinem | |
Hotelzimmer wurde er vorübergehend entführt. Die Föderalisten von Ibrahim | |
Jatran haben sich anders als die Berber für eine kompromisslose Haltung | |
entschieden und blockieren weiterhin drei Ölhäfen in Ostlibyen. Drei Jahre | |
nach Beginn der Revolution hängt Libyens Zukunft von der Willkür einzelner | |
Milizenführer ab. | |
Ayoob Sufyan machen die chaotischen Entwicklungen nachdenklich, vom | |
Aktionismus der vergangenen Wochen keine Spur mehr. Bis zur Wahl der | |
Verfassungskommission im Februar will er zumindest abwarten. „Unsere Aktion | |
macht mir im Nachhinein Angst. Wir konnten mit guter Planung und nur ein | |
paar Dutzend Gleichgesinnten eine ganze Industrieanlage unter Kontrolle | |
bringen. Wir haben das für unsere legitimen Grundrechte getan. Nicht | |
auszudenken, wenn Extremisten auf die gleiche Idee kommen.“ | |
12 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
## TAGS | |
Besetzung | |
Minderheitenrechte | |
Berber | |
Islamismus | |
Libyen | |
Libyen | |
Libyen | |
Libyen | |
Tripolis | |
Libyen | |
Libyen | |
Libyen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bürgerkrieg in Libyen: Zurück zum Anfang | |
In Libyen gibt es zwei Regierungen, zwei Fronten und viele divergierende | |
Interessen. Viele haben Angst vor einer Spaltung des Landes. | |
Jahrestag in Libyen: Die Euphorie ist lange verflogen | |
Hunderttausende wollen am Montag im ganzen Land demonstrieren. Die | |
Zivilgesellschaft hat das demokratische Handwerk schnell gelernt. | |
Bürgerkrieg in Libyen: Zwischen Tuareg und Gaddafi | |
Die schwersten Kämpfe im Süden des Landes seit der Revolution geben Anlass | |
für unzählige Gerüchte. Die Regierung setzt Panzer in Bewegung. | |
Streit um Libyens Ölhäfen: Ultimatum an den Regierungschef | |
Die Regierung in Tripolis und die Blockierer der Ölhäfen im Osten des | |
Landes können sich nicht auf ein Ende des Exportstopps einigen. | |
Islamisten in Libyen: Bürgerprotest erreicht weitere Stadt | |
Nach Tripolis und Bengasi verjagen nun auch die Einwohner von Derna im | |
Osten des Landes die radikale Miliz Ansar al-Scharia. | |
Kommentar Widerstand in Libyen: Hoffnungsschimmer in Tripolis | |
Nach den Ausschreitungen am vergangenen Wochenende geht Libyens Jugend in | |
Tripolis auf die Straße. Das gibt Auftrieb. | |
Rohstoffförderung in Libyen: Besetzer drehen den Ölhahn zu | |
Aktivisten der Minderheit der Amazigh legen die Pipeline eines | |
italienischen Konzerns lahm. Damit verstärken sich die Proteste gegen | |
Ölfelder im Land. | |
Feindschaften in Libyen: Die gespaltene Revolution | |
Zwei Jahre nach Gaddafis Tod formieren sich verfeindete Lager zum Showdown: | |
Ost gegen West, Islamisten gegen Gaddafi-Veteranen, Milizen gegen | |
Zentralstaat. | |
Transitraum Libyen: Die bessere Seite der Sahara | |
Tausende fliehen jede Woche von Niger nach Libyen. Sie wissen, die Wüste | |
ist gefährlich. Doch das Chaos in Libyen ist ihre Chance. |