| # taz.de -- Trauer um Stéphane Charbonnier: Er hätte gelacht | |
| > Er war das Gesicht von „Charlie Hebdo“. Und der Verteidiger. Seine | |
| > Freundin findet, Stéphane Charbonnier müsse neben Voltaire und Zola | |
| > ruhen. | |
| Bild: Stéphane „Charb“ Charbonnier am 19. September 2012 in der Redaktion | |
| In seinem letzten Cartoon für Charlie Hebdo, erschienen in der Ausgabe vom | |
| vergangenen Mittwoch, wünschte sich Stéphane Charbonnier einen Anschlag. | |
| Das Bildchen zeigt unter der Überschrift „Noch immer kein Anschlag in | |
| Frankreich“ einen drolligen Dschihadisten mit geschulterter Kalaschnikow, | |
| wie er den obligatorischen Zeigefinger hebt und erklärt: „Wartet! Wir haben | |
| noch Zeit bis Ende Januar für unsere Feierlichkeiten.“ Unwahrscheinlich, | |
| dass seine Mörder das Bild noch gesehen haben. Nicht unwahrscheinlich, dass | |
| sie sich darüber geärgert hätten. | |
| Am Donnerstag, zwei Tage nach seinem Tod, gibt seine Freundin ein | |
| Fernsehinterview. Jeannette Bougrab ist Jugendstaatssekretärin unter | |
| Nicolas Sarkozy gewesen. Dass sie mit Charbonnier zusammen war, ist bis | |
| dahin nicht bekannt. „Er wusste, dass er sterben würde“, sagt Bougrab. Auch | |
| deshalb habe er nie Kinder gehabt. Charbonnier habe einen Platz im Pantheon | |
| verdient, in der nationalen Ruhmeshalle Frankreichs, auf dem Hügel in | |
| Paris, wo der Philosoph Voltaire oder der Schriftsteller Émile Zola liegen. | |
| Bougrab ist eine von zahlreichen Verwandten und Freunden, die sich seit dem | |
| Anschlag geäußert haben. „Mein Vater ist tot, aber Wolinski lebt“, sagte | |
| etwa eine der Töchter des Zeichners Georges Wolinski. Es war Stéphane | |
| Charbonnier, der die Mohammed-Karikaturen am hörbarsten verteidigt hat. Die | |
| Terroristen riefen seinen Namen, als sie die Redaktionskonferenz gestürmt | |
| hatten: Charb. So nannte er sich als Karikaturist. | |
| Geboren wird Stéphane Charbonnier 1967 in einem Örtchen an den Ufern der | |
| Seine, ein paar Kilometer flussabwärts von Paris. Die Familie ist das, was | |
| man „kleinbürgerlich“ nennen könnte und doch in gewisser Weise in der | |
| Kommunikationsbranche tätig. Der Vater arbeitet als Techniker für die | |
| französische Telefongesellschaft PTT, die Mutter als Sekretärin. Seine | |
| Kindheit beschreibt er als langweilig, besondere Interessen habe er keine | |
| gehabt. | |
| „Ich habe ein wenig gelacht, aber nicht viel. Ich war ein wenig sauer, aber | |
| nicht viel. Mir fehlte es an nichts und mich erfreute nichts.“ Absetzen | |
| musste er sich nicht von seinen Eltern – sondern von seinem Großvater, | |
| einem frühen Parteigänger des rechtsradikalen Front National. Der sei kein | |
| Rassist, aber ein Großmaul gewesen, der gemeinsame Mahlzeiten wegen der | |
| sozialistischen Vorlieben des Vaters in Schlägereien verwandelt habe. | |
| ## Erste Karikaturen in der Schülerzeitung | |
| Charb besucht das Collège des Louvrais im Städtchen Pontoise, wo er | |
| offenbar an einen wenig inspirierenden Lehrer für Mathematik gerät. Denn | |
| anstatt zu rechnen, bekritzelt der Junge lieber Stunde um Stunde seine | |
| Hefte mit kleinen Männchen. Karikaturen der Lehrer sind das, Abbilder der | |
| Mitschüler, Selbstporträts. | |
| Sein Strich ist geschult durch die Lektüre der „Tim und Struppi“-Comics | |
| seines Vaters und anderer Klassiker der „bande dessinée“, der frankofonen | |
| Comic-Kultur. Ein Zeitvertreib, der sich zur Leidenschaft auswächst – und | |
| sich im schulischen Umfeld mit einem kritischen Blick auf Autoritäten | |
| verbindet. Schnell erwirbt er unter den Mitschülern den Ruf, ein guter | |
| Zeichner zu sein, veröffentlicht erste Karikaturen in der Schülerzeitung. | |
| Eine Ausbildung lässt er sausen und zeichnet und schreibt lieber weiter für | |
| Provinzblätter. In seiner Freizeit hört er die Dead Kennedys und träumt, | |
| ganz romantisch, davon, mit dem Inhalt seiner Notizbücher dem Proletariat | |
| die Notwendigkeit der gemeinsamen Sache klarmachen zu können. Unterdessen | |
| schlägt er sich mit Illustrationen für Kinoprogramme durch, bis er 1991 – | |
| während des Golfkriegs – zum Satiremagazin La Grosse Bertha wechselt. | |
| ## Pazifistisches Magazin | |
| Dort begegnet er in dem Humoristen und Journalisten Philippe Val einem | |
| Mentor, dem er in inniger Hassliebe verbunden bleiben wird. Zum beinahe | |
| finalen Zerwürfnis kommt es während des Kriegs auf dem Balkan, bei dem | |
| Charb den bellizistischen Kurs seines Chefs nicht mittragen will: „Ein | |
| pazifistisches Magazin kann nicht die Bombardierung von Zivilisten | |
| unterstützen.“ Beide kommunizieren nur noch über einander widersprechende | |
| Artikel. | |
| Trotzdem folgt Charb kurz darauf Val und dem – am Mittwoch ebenfalls | |
| ermordeten – Kollegen Jean Cabut bei dem Versuch, den alten Satiretitel | |
| Charlie Hebdo neu zu beleben. Das Magazin hält sich, auch wegen seiner | |
| radikalen Positionen und Kolumnen wie „Charb mag keine Menschen“. Als Val | |
| 2009 geht, folgt Charb. Kinder will er nie, Immobilien auch nicht, Geld | |
| hält er für ein effektives Korrumpierungsmittel. | |
| Als 2011 jemand noch vor der Auslieferung der Ausgabe mit dem Titel „Charia | |
| Hebdo“ die Redaktionsräume anzündet, stellt sich Charbonnier vor die | |
| Trümmer und lässt sich filmen: Sie bräuchten Computer. Charlie Hebdo müsse | |
| unbedingt weiter erscheinen. | |
| ## Überzeugter Atheist | |
| In zahlreichen Interviews hat Charbonnier seine kompromisslose Haltung | |
| erklärt. Vor allem gegenüber denen, die ihm bloße Provokation zum Zwecke | |
| der Auflagensteigerung vorwarfen. Die französische Linke, sagte er einmal, | |
| sei beim Umgang mit Muslimen gespalten: Die einen betrachteten Muslime als | |
| ernst zu nehmende Mitbürger mit Humor. Die anderen hätten das Gefühl, sie | |
| seien zerbrechliche Persönlichkeiten, die man schützen müsse, statt sie zu | |
| schocken. „Unsere einzige Verantwortung ist es, die Gesetze Frankreichs | |
| einzuhalten“, meinte er. | |
| Die Arbeit ist sein Leben, er definiert sie als „Ausübung und Ausreizung | |
| der Freiheit, die uns das Gesetz gibt“. Nun ist ausgerechnet ein | |
| überzeugter Atheist wie Stéphane Charbonnier als „Märtyrer“ für die Wer… | |
| einer laizistischen Gesellschaft gestorben. Die Ironie dieser gleich | |
| doppelt dümmlichen Auslegung wäre Charb nicht entgangen. Er hätte bestimmt | |
| gelacht. | |
| 9 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Arno Frank | |
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