# taz.de -- Berliner Konferenz zur Holocaustforschung: Der verwüstete Kontinent | |
> Auf der 5. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung wurde vor | |
> allem über die Zeit nach der Befreiung debattiert. | |
Bild: Ein sehr, sehr langer Weg zum richtigen Gedenken: Stolperstein auf der Be… | |
BERLIN taz | Der Kontrast zwischen demoskopisch ermittelten Wünschen und | |
dem Interesse am Thema durch WissenschaftlerInnen und ihrem Publikum ist | |
sprechend: 81 Prozent der Deutschen, so ergab eine Untersuchung der | |
Bertelsmann-Stiftung, möchte mit der Geschichte der Judenverfolgung in | |
Deutschland, in Europa nicht mehr behelligt werden. | |
Andererseits hatten sich zur 5. Internationalen Konferenz zu eben diesem | |
Thema, ausgerichtet von der Bundeszentrale für politische Bildung, der | |
Universität Flensburg und der Humboldt-Uni Berlin, viel mehr Interessenten | |
angemeldet, als das Tagungsforum an der Berliner Friedrichstraße hätte | |
fassen können. 450 Menschen schließlich, überwiegend aus Deutschland, | |
einige aus Israel, Frankreich, Großbritannnien, Polen und Russland, aus | |
Wissenschaft, Fortbildung, Schulen und Gedenkstätten, waren Teil der Tagung | |
– mehr als 200 hätten es darüber hinaus noch sein wollen. | |
## Was bedeutete der 8. Mai? | |
Dass der Widerspruch einer zwischen flächendeckender Pädagogisierung des | |
Themas, gewöhnlicher Ermüdung wie bei jedem Thema in der öffentlichen Arena | |
und dem Fokus der Tagung gelegen hat, könnte hilfreich sein: Es ging in der | |
Konferenz um die Zeit nach dem 8. Mai, in der Bundesrepublik das kanonische | |
Datum, das das Ende des Nationalsozialismus durch seine Kapitulation fand. | |
Es blieb dem Schlussvortrag des englischen Historikers Keith Lowe | |
vorbehalten, mit gewissen Mythen zu dieser Zeit aufzuräumen. | |
Der Autor der jüngst erschienenen Studie „Der wilde Kontinent“ entwickelte | |
ein Panorama Europas des Nachkriegs, das eben nichts von einem „Happy End“ | |
habe, nur stellenweise von „Dancing On The Streets“ oder Ausgelassenheit ob | |
des Siegs über Wehrmacht und NS. Davon abgesehen, so Lowe, dass ein Europa | |
ein verwüsteter Kontinent war, mit Menschen, die sich nirgendwo ihrer | |
Zukunft sicher waren, mit Hass und Rachegefühlen und mit Angst darum, wie | |
es weitergehen könnte, wies auch er darauf hin, dass für den östlichen Teil | |
Europas, der plötzlich unter dem nicht nur gefühlten Einfluss der | |
Sowjetunion stand, das Totalitäre, das Diktatorische weiterging. | |
Für das Baltikum etwa buchstabiert sich das Kriegsende viel mehr mit | |
Erinnerungen an Deportationen in die Gulags als mit dem Weg in die | |
Freiheit. Lowe, Primo Levi zitierend, der Europa als „Anti-Schöpfung“ | |
wahrnahm, ermüdet, kaputt, wollte seine Ausführungen sicher nicht als | |
Gegenerzählung zur gewonnenen Befreiung vom Nationalsozialismus verstanden | |
wissen – eher als Ernüchterung, als Warnung, allzu grobschnittig den | |
Nachkrieg zu überliefern. | |
Für die Menschen in der Sowjetunion, das hob besonders der Historiker Jörg | |
Baberowski hervor, war der Zweite Weltkrieg faktisch erst mit dem Tod | |
Stalins im Jahre 1953 zu Ende, wenigstens fragmentarisch. Denn gesprochen | |
werden durfte in der Sowjetunion über die Leiden der sowjetischen | |
Bevölkerung am eigenen Regime nicht – alles blieb, bis heute, zugekleistert | |
unter der Erzählung vom siegreichen Großen Vaterländischen Krieg. | |
Lowe, Baberowski und andere mögen die großen Linien der Zeit | |
nachgezeichnet, korrigiert und ausgemalt haben – die Tagung hob sich durch | |
neue Forschungsberichte aus den Fußnoten des Geschehens hervor. | |
Der Sozialpsychologe Harald Welzer fragte zu Beginn: Gab es für die | |
geschundenen, flüchtenden, eine Heimat suchenden Menschen – Täter wie Opfer | |
– diesen Tag der Befreiung überhaupt? Wie kann Forschung damit umgehen, | |
dass vieles vom Politischen aus dieser Zeit inzwischen bekannt ist, aber | |
nicht, wie es den Betroffenen ging? | |
Berichte aus den Lagern der Displaced Persons in Deutschland, vor allem in | |
der amerikanischen Besatzungszone, zeichneten ein genaueres Bild von dem, | |
was damals los war (angenehmerweise gab es übrigens einen hohen Anteil | |
junger Forscherinnen, die Platzhirsche aus der Geschichtswissenschaft waren | |
eher rar vertreten). | |
## Oral History | |
Als fruchtbar erwiesen sich vor allem die damals gesammelten Berichte: | |
Dokumente der Oral History, von der offiziellen Geschichtsschreibung als | |
untauglich verworfen. Was können Opfer schon berichten, wenn man doch | |
besser die Strukturen politischer Herrschaft klärt? | |
Anders gesagt: Was Atina Grossman, Wendy Lower, Françoise S. Ouzan, Miriam | |
Rürup, Ulrike Weckel, Linde Apel, Elisabeth Gallas, Hanne Leßau, Katharina | |
Gerund und Alexa Stiller vortrugen, war noch viel zu wenig von dem, was mit | |
Walter Kempowski das Narrativ des „Echolots“ genannt werden könnte. Eine | |
Geschichte der nächsten, individuellen Genauigkeit – von jüdischen und | |
nichtjüdischen Überlebenden. | |
Ein Trauma handelt ja nicht von etwas Verborgenem, sondern von Bekanntem, | |
allerdings nicht fassbar, weil in Schwarz-Weiß gefärbt: Diese Bilder | |
aufzulösen wäre ein Beitrag zu einer europäischen Erzählung jener Zeit. | |
Eine öffentliche Präsentation dessen, was Geschichtserzählung sein kann, | |
wäre, als Echolot angelegt, von eher geringer Gefahr, am Sakralen zu | |
ersticken. | |
Viele Fragen, das bleibt zu monieren, wurden nicht erörtert, die man hätte | |
erörtern müssen: Keine Geschichte der Remigranten nach 1945 wurde zu Gehör | |
gebracht, keine Erzählung von Homosexuellen, die ebenso mit dem Jahr 1945 | |
nicht wussten, ob sie ihre 1933 unterbrochene Emanzipation wieder aufnehmen | |
können. Schließlich blieb auch das als Frage blind, was bis heute | |
außenpolitisch nachwirkt: Israel als Thema fehlte fast völlig. | |
Das heißt die besondere Berücksichtigung der jüdischen Untergrundgruppen, | |
die Juden aus Osteuropa auch gegen westalliierte Widerstände in die | |
amerikanischen Besatzungszonen schleusten – mit dem Land im Nahen Osten als | |
lebensrettende Verheißung. | |
2 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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