# taz.de -- Folgen des Zweiten Weltkriegs: Im Schatten der Katastrophe | |
> Der Historiker Keith Lowe legt seine Globalgeschichte „Furcht und | |
> Befreiung. Wie der Zweite Weltkrieg die Menschheit bis heute prägt“ vor. | |
Bild: 75 Jahre nach 1944, Saint-Laurent-Sur-Mer: Darsteller verkörpern Soldate… | |
Angela Merkel mit einmontierter Hakenkreuzbinde in griechischen und | |
polnischen Medien, Blockbuster mit heranstürmenden US-Soldaten, Panzer auf | |
Siegesparaden in Moskau: Dass der Zweite Weltkrieg bei der Interpretation | |
politischer Kontroversen genauso wie in der Erinnerungskultur bis heute | |
einen prägenden Einfluss hat, ist keine neue Erkenntnis. Die immerwährende | |
Unterscheidung in Schurken und Helden bestätigt kollektive Erinnerungen, | |
wobei sich jede Nation, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der Rolle des | |
Helden wiederfindet. | |
Die Geschichte von „Helden“ und „Ungeheuern“ ist aber nur der Ausgangsp… | |
in der glänzenden Untersuchung des britischen Historikers Keith Lowe, der | |
sich eines gigantischen Themas angenommen hat: der globalen Aus- und | |
Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs. Schon bei diesen Stichworten | |
untergräbt Lowe gerne gepflegte Mythen der Geschichte, wenn er festhält, | |
dass natürlich soldatische „Helden“ auch furchtbare Verbrechen begingen, | |
dass es neben den Judenrettern eben auch die Verräter gab, die Menschen ans | |
Messer lieferten. Letztere Erinnerungen aber sind in den Narrativen der | |
Nationen absichtsvoll verloren gegangen. | |
Lowes Anmerkungen zu „Helden“ und „Ungeheuern“ sind nur der Prolog für | |
seine Untersuchung über die Folgen des größten Schlachtens in der | |
Menschheitsgeschichte, die weit über das Offensichtliche hinausgehen. Das | |
Buch zeigt auf, dass wesentliche Entwicklungen nicht nur politischer Art | |
ihre Grundlage im Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen haben. Dazu zählen | |
insbesondere die Entkolonialisierung, der Nationalismus und die globale | |
Migration – aber auch der Wille, die politischen Verhältnisse nach den | |
Schrecken des Krieges umfassend zu verändern. | |
## Ein kenianischer Bauernsohn in der britischen Armee | |
Da ist zum Beispiel Itote, der Sohn eines kenianischen Bauern. In der | |
britischen Kolonie stieß der junge Mann überall auf Verbote. Er bekam für | |
sein Geschäft keine Konzession, er durfte keine Toiletten für Weiße | |
benutzen, selbst der Konsum bestimmter Biersorten war ihm untersagt. Im | |
Krieg ließ er sich in die britische Armee werben und kämpfte im Grenzgebiet | |
von Indien mit Birma. | |
Hier widerfuhren Itote einige nachhaltige Erkenntnisse: die Kameradschaft | |
zwischen Menschen verschiedener Hautfarben etwa, aber auch die Tatsache, | |
dass die Briten nicht nur sein Land, sondern weite Teile Asiens in Besitz | |
genommen haben. Der Krieg ging zu Ende, Itote kehrte nach Kenia zurück, wo | |
noch immer das gleiche Verbotsregime bestand. Und er schloss sich einer | |
Bewegung an, die für mehr Rechte für Schwarze kämpfte, Ergebnis seiner im | |
Krieg gemachten Erfahrungen. | |
Itote radikalisierte sich, nahm an einem Aufstand teil, kam ins Gefängnis | |
und entging nur knapp der Todesstrafe. Doch am Ende war er einer von vielen | |
– darunter eine bemerkenswerte Zahl an Kriegsteilnehmern –, die die | |
Unabhängigkeit Kenias erkämpften. | |
Jedes Kapitel führt Keith Lowe mit einem solchen Protagonisten ein. Auch | |
das macht sein Buch mit all seinen zwangsläufig darin enthaltenen Schrecken | |
zu einer spannenden Lektüre. Der Autor erdet damit quasi seine Analysen mit | |
realen Menschen, ihrer Verzweiflung, ihrem Mut und ihrem Können – und er | |
zeigt die Möglichkeiten auf, die nach 1945 für den Einzelnen bestanden. | |
Dabei verschweigt Lowe nicht, dass die Entkolonialisierung natürlich nicht | |
einzig ihre Ursache im Weltkrieg hatte. Aber der Krieg war der Impulsgeber | |
für diese Freiheitsbewegung ebenso wie für die Gründung supranationaler | |
Organisationen wie der Vereinten Nationen – allerdings auch für ihr | |
Gegenteil, den überbordenden Nationalismus. | |
## Die Sieger waren bald verfeindet | |
Weder die Sieger – schon bald in zwei Blöcken miteinander verfeindet – noch | |
die bis dahin im Süden Unterdrückten konnten nach den Kriegserfahrungen | |
einen Grund dafür erkennen, warum sie dieses Modell imaginärer | |
Gemeinschaften in Frage stellen sollten, im Gegenteil: Die Berufung auf die | |
Nation hatte die einen zum Sieg geführt, das Bekenntnis zur Nation sollte | |
den anderen die Befreiung ermöglichen. | |
Einzig für das kriegszerstörte Europa erkennt Lowe mit der Entwicklung der | |
EU eine Sonderbewegung, aus der Not geboren, um einen Krieg auf dem | |
Kontinent für immer unmöglich zu machen, aber, wie der Autor bedauernd zur | |
Kenntnis nimmt, inzwischen von Nationalisten wieder infrage gestellt, die | |
zudem im Gefühl der Sorge um ihre behaupteten Gemeinschaften der globalen | |
Migration den Kampf angesagt haben – als könne man das Meer dazu zwingen, | |
seine Wellenbewegungen einzustellen. | |
Und so wäre dieses meisterliche Buch eine ziemlich deprimierende Lektüre, | |
wenn Lowe seinen gewichtigen Ausflug in die bis heute andauernde | |
Nachkriegsgeschichte nicht mit einem Manifest beenden würde: einem Aufruf | |
zum eigenen Denken, zum Überwinden der Mythen und Infragestellung der | |
„Helden“. | |
Da schreibt Lowe etwas, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, es | |
aber nicht ist: „Echte Freiheit verlangt von uns, aus der Masse | |
herauszutreten und ihr gelegentlich sogar die Stirn zu bieten und nach | |
Möglichkeit selbst zu denken. Sie zwingt uns dazu, das, was wir verloren | |
haben, ungeschönt zur Kenntnis zu nehmen, einzusehen, dass auch wir Fehler | |
gemacht haben und für unser Leid mitverantwortlich sind. Ein freier Mensch | |
ist ein Mensch, der schwer an Verantwortung und unangenehmen Wahrheiten zu | |
tragen hat.“ | |
4 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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8. Mai 1945 | |
Chaos | |
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