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# taz.de -- Ausstellung über jüdische NS-Überlebende: Im Land der Täter
> Nach der Schoah strandeten viele Juden in Deutschland. Eine Ausstellung
> im Jüdischen Museum Berlin erinnert an ihre schriftlichen Zeugnisse.
Bild: Kinder in einem Berliner Lager für Displaced Persons auf dem Weg zum Mit…
Die vergilbte Landkarte mit dem Umriss des besetzten Deutschland zeigt 275
rote Punkte, gelegen in der amerikanischen Zone im Süden und der britischen
im Westen des Landes. Jeder Punkt steht für ein Flüchtlingslager.
„Situation vom 8. 5. 1946“ steht am Rand der Mappe.
Ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs strömten immer mehr Menschen
in das zerstörte Land. Es waren überlebende Juden aus Osteuropa, die sich
ausgerechnet im „Land der Täter“ den Ausgangspunkt in eine neue Heimat
erhofften. Ihre Familien waren ermordet, ihre Wohnungen in Polen, der
Tschechoslowakei oder Rumänien längst von einheimischen Christen okkupiert
worden. Die Juden waren auf der Flucht.
Geschätzte 250.000 jüdische „Displaced Persons“ (DPs) sind bis 1948 in die
Westzonen der späteren Bundesrepublik gekommen – aber nicht, um zu bleiben.
Sie wollten fern von Europa einen Neubeginn wagen, in den USA, Australien,
Kanada, vor allem aber in Palästina, das 1948 zum Staat Israel wurde. Doch
jahrelang saßen sie in Deutschland fest. Die USA nahmen anfangs nur sehr
zögerlich jüdische Einwanderer auf, und Großbritannien bestand auf extrem
niedrigen Quoten in ihrem Mandatsgebiet Palästina.
Die roten Punkte verteilen sich ungleichmäßig auf der Landkarte. Besonders
viele finden sich in der US-Zone in Bayern. In kleinen Städten wie
Schwandorf, Furth im Wald, Hohenfels oder Cham – überall entstanden
DP-Gemeinden in alten Kasernen, Kurgebäuden, verlassenen NS-Dienstellen
oder deutschen Privathäusern. Versorgt wurden die Menschen von der UNRRA,
einer Unterorganisation der gerade gegründeten Vereinten Nationen, und von
amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisationen wie dem Joint.
Die überlebenden Juden, die sich selbst Sche’erit Hapleta (Rest der
Geretteten) nannten, lebten in der bayerischen Provinz im Wartestand. Sie
organisierten in ihren Lagern eine Selbstverwaltung. Sie begründeten eigene
Zeitungen, Broschüren und Bücher. So entstand eine Kultur des Übergangs –
schon fort von zu Hause, aber noch weit weg der neuen Heimat.
## Wille zu neuem Leben
Seltene schriftliche Zeugnisse dieses jüdischen Lebens mitten in
Deutschland sind in einer kleinen Sonderausstellung des Jüdischen Museums
Berlin zu sehen. Nahezu alle Bücher und Broschüren erschienen damals in
hebräischer Schrift, doch in jiddischer Sprache. Ihr Papier ist brüchig
geworden, die Umschläge zeigen Zeichen einer intensiven Nutzung. Da findet
sich ein Band mit Gedichten über das verhasste Deutschland von Mates
Olitski, der aus Polen gekommen war. „In Fremdn Land“ heißt das 1947
erschienene Buch mit der Zeichnung der Häuser einer deutschen Kleinstadt
auf dem Umschlag.
Schon in den Lagern begann die Aufarbeitung der allerjüngsten Geschichte
unter den Überlebenden. Ein Band von 1948 beschäftigt sich mit der Schoah
und zeigt Bilder und Dokumente. Ein anderes Werk, „Im Heldischn Gerangl“,
erinnerte an den sechsten Jahrestag des Aufstands im Warschauer Getto. „Dos
Geto im Flamen“ ist der Titel eines autobiografisch gefärbten Romans des
aus Kaunas stammenden Schriftstellers Schmuel Golburt.
Vor allem aber spiegeln die Veröffentlichungen den Willen zu einem neuen
Leben wider. Hebräische Lehrbücher sollten auf die Zukunft in Israel
vorbereiten. Die Gewerkschaftsorganisation Histadrut veröffentlichte einen
Band über die Arbeiterbewegung in Erez Israel mit erntenden Frauen in einem
Kornfeld auf dem Titel.
Diese wohl einmalige Sammlung über das Überleben nach dem Holocaust
entstand seit 2009 in der Staatsbibliothek Berlin und verdankt ihrem
Zuwachs vor allem ihrer Leiterin Sofia Charlotte Fock, die sich um
Neuerwerbungen und notwendige Restaurierungen bemüht. Nach Gründung des
Staates Israel zogen bis 1950 fast alle jüdischen DPs fort. Nur etwa 10.000
von ihnen blieben in der jungen Bundesrepublik und bildeten zusammen mit
den überlebenden deutschen Juden den Nukleus für ein jüdisches Leben nach
dem Holocaust. Die Kultur des Übergangs verschwand.
17 Sep 2015
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Juden
Antisemitismus
Holocaust
Displaced Persons
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Antisemitismus
Zwangsarbeit
8. Mai 1945
Bremerhaven
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