# taz.de -- Erbe des Nationalsozialismus: Erfahrbares Nichts | |
> Clemens Kalischers Fotozyklus „Displaced Persons“ ist in Bremerhaven zu | |
> sehen. Die Kunstwerke zeugen von der totalen Verneinung menschlichen | |
> Lebens. | |
Bild: Zwei Menschen unbekannter Herkunft, bei ihrer Ankunft in New York 1948. | |
BREMERHAVEN taz | Die Namen der Einwanderer, die er 1947/48 im New Yorker | |
Hafen fotografiert hat, kennt Clemens Kalischer nicht. Er hat sie auch | |
nicht gefragt, woher sie stammen. „Das war damals einfach nicht wichtig“, | |
sagt er. Als Überlebende des Holocaust kommen sie nirgendwoher, ihre Heimat | |
ist unwiederbringlich verloren und ihre Biografien zermalmt im Komplex der | |
Lager. Nach dem Krieg blieben sie als „Displaced Persons“ zurück, in | |
Deutschland oder irgendwo in den ehemals besetzten Gebieten Osteuropas. Und | |
weil niemand wusste, wohin mit ihnen, wurden sie gleich wieder interniert – | |
manche gleich wieder auf den KZ-Geländen. | |
Kalischers Fotos zeigen diese Displaced Persons später bei ihrer Ankunft in | |
den USA. Nichts auf diesen Bildern verweist auf ein Früher, vor der | |
Katastrophe: Die Gesichter der Älteren sind von Entbehrung gezeichnet, im | |
kurzen Leben der Kinder gab es kaum etwas anderes als die Verfolgung. Die | |
elegante Kleidung und ihr Gepäck sind Spenden jüdischer Hilfsorganisationen | |
oder wurden beschlagnahmt von den Familien ihrer Peiniger. Es gibt nur den | |
Blick in die Zukunft. Diesen Moment einzufangen, verstand der Fotograf wohl | |
deshalb so treffsicher, weil er selbst fünf Jahre zuvor als Flüchtling in | |
New York von Bord gegangen war. Bereits 1933 emigrierte er mit seiner | |
jüdischen Familie nach Frankreich. Verhaftet wurde er dort sechs Jahre | |
später – weil er Deutscher sei. Die Irrwege der Verfolgten sind komplex und | |
nicht immer leicht zu verstehen. | |
## Gut aufgehoben | |
Das [1][Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven] hat Kalischers Bilder | |
erworben und widmet ihnen eine Sonderausstellung. Aufgehoben sind sie hier | |
gut: 550.000 Displaced Persons haben in Bremerhaven ihre Überfahrt begonnen | |
– keine vier Kilometer vom Standort des Museums entfernt, wie Direktorin | |
Simone Eick sagt. Ergänzt wurden die Fotografien um 14 Biografien aus den | |
eigenen Archiven und vom Yivo-Institut in New York. Bei der | |
Ausstellungseröffnung ist auch Kalischer anwesend. In Begleitung seiner | |
beiden Töchter ist der heute 93-Jährige nach Deutschland gekommen. Er ist | |
ein ruhiger und freundlicher Mann – etwas nervös vielleicht. Er kann sich | |
nicht mehr an alles erinnern, steht bescheiden vor seinen meisterlichen | |
Fotografien. Er habe sich halt immer für Menschen interessiert, sagt er, | |
darum sei er raus zum Hafen gefahren, als er vom Einlaufen der | |
Flüchtlingsschiffe gehört habe. | |
## Individuen, nicht Typen | |
Von diesem Interesse zeugen die Bilder: Sie zeigen Individuen, nicht Typen. | |
Meist sind sie allein auf den Bildern. Eine Frau schläft, andere sitzen | |
wartend bei ihrem Gepäck, oder blicken nachdenklich in die neue Umgebung. | |
Es ging Kalischer nicht darum, die Bedingungen der Überfahrt zu | |
dokumentieren, nicht die Kabinen, die Verpflegung und auch nicht das | |
Miteinander an Bord. Und dennoch sind die Bilder Dokumente – von Emotionen | |
und vom individuellen Sein in vergangenheitsloser Gegenwart. Im letzten | |
Teil der Ausstellung sind auf vielen Bildern Umarmungen zu sehen und | |
schließlich auch größere Gruppen. Endlich ein Wiederankommen in | |
Gesellschaftlichkeit. | |
## 14 Biographieschnipsel | |
Neben den Bildern hängen 14 ergänzende Biografieschnipsel, die zum größten | |
Teil in ORT-Schulen zu Protokoll gegeben wurden. Diese jüdische NGO hat | |
damals versucht, Ausbildungsdefizite der Displaced Persons auszugleichen | |
und sie auf das Leben in den USA vorzubereiten. Die Arbeit an solchen | |
biografischen Quellen ist eine große Stärke des Bremerhavener Museums. Mit | |
Aufbereitungen solchen Materials werden dort historische Zusammenhänge | |
illustriert und Gästen die Möglichkeit gegeben, auf Spurensuche nach | |
ausgewanderten Verwandten zur gehen. | |
Doch im Fall dieser Sonderausstellung liegt darin auch eine Gefahr. | |
Kalischers Perspektive ist eine momentane und die Bilder sperren sich, als | |
historische Quelle zu fungieren. Als Abbild historischer Wirklichkeit sind | |
sie zweifelhaft, weil sie ästhetisierend sind und wenig erklären. | |
Gleichzeit drohten sie durch die Parallelisierung mit den Textquellen, zu | |
deren Illustration degradiert zu werden. Wo Kalischers Fotos ihre | |
Ausdruckskraft gerade aus der Verneinung von Kontext und Biografie ziehen, | |
werden die Lücken durch Geschichten gefüllt und das zerbrochene Ganze | |
wieder hergestellt. | |
Die Illusion, es handle sich bei den im Text beschriebenen Personen um jene | |
auf Kalischers Fotos, ist in der Ausstellung angelegt, auch wenn sie nicht | |
ausdrücklich behauptet wird. Schon historisch bezeugte die | |
verallgemeinernde Formel „Displaced Persons“ den Versuch, eines schwer | |
greifbaren Phänomens Herr zu werden: Das Hauptquartier der alliierten | |
Streitkräfte bezeichnete damit Zivilisten, die sich in Folge von Krieg und | |
Verschleppung außerhalb ihrer Heimatländer befanden und dorthin nicht | |
zurückkehren konnten oder wollten. Eine juristische Fassung, die das | |
weitere Vorgehen strukturieren sollte. | |
## Debatte um das Erbe | |
Elf Millionen befanden sich in Europa, darunter viele JüdInnen und | |
russische ZwangsarbeiterInnen, die von den Alliierten aus deutschen Lagern | |
befreit worden waren. Ein Organisationsproblem einerseits, aber auch | |
Gegenstand einer Debatte um das Erbe des Nationalsozialismus. Kaum jemand | |
wollte sie haben. Aber, wie Kalischers Bilder zeigen, gelang zumindest | |
Einigen die Einreise in den USA. | |
Die Fotos stammen aus der Zeit, bevor der Displaced Persons Act die Wege | |
öffnete. Das geschah nicht zufällig erst nach der Staatsgründung Israels, | |
das allen jüdischen Flüchtlingen Schutz, Unterkunft und Staatsbürgerschaft | |
anbot. Über die dokumentarischen Thementische der Ausstellung ist all das | |
nachzuvollziehen. Nüchtern werden die Rahmenbedingungen dessen dargestellt, | |
was das eigentlich Unfassbare an Kalischers Aufnahmen ist: die | |
Unzumutbarkeit, unter den deutschen Mördern neu anzufangen oder in Stalins | |
Sowjetunion, wohin eine „Repatrialisierung“ die meisten geführt hätte. Da… | |
diese Einreise ermöglicht wurde, belegt die Objektivität dieser | |
Unzumutbarkeit. Gern hat man sie nicht aufgenommen, trotz politischer | |
Arbeit und Imagekampagnen jüdischer Hilfsorganisationen. | |
1957 wurde das letzte Displaced-Persons-Lager geschlossen und die | |
Zeitlosigkeit ging zu Ende. Kalischers Bilderzyklus ist ein ergreifendes | |
Zeugnis der totalen Aufhebung menschlichen Lebens – gerade weil der | |
Künstlerblick dieses Nichts erfahrbar macht, während Quellen nur seine | |
Bedingungen benennen. | |
## Sonderausstellung „Displaced Persons. Überlebende des Holocausts | |
1938–1951“. Bis zum 30. November im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven, | |
Columbusstraße 65 | |
29 Jul 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://dah-bremerhaven.de/ | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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