# taz.de -- Doku NS-Geschichte in Israel: Den Feind zum Freund haben | |
> Ein Doku-Filmer räumt in „Die Wohnung“ den Nachlass seiner toten | |
> Großeltern auf – und findet heraus, dass sie mit einem Nazi befreundet | |
> waren. | |
Bild: Alte Briefe und Fotos aus der Wohnung von Arnon Goldfingers Großeltern. | |
Das Rollo wird hochgezogen und Staub wirbelt auf. Mit dem Eifer der | |
Möbelpacker geht die Familie durch die Hinterlassenschaften von Gerda | |
Tuchler, der Mutter und Großmutter. Alte Bücher werden verscherbelt, | |
Müllsäcke fliegen über den Balkon. Die Enkel wühlen in alten | |
Damenhandschuhen und posieren mit echten Füchsen um den Hals. Arnon | |
Goldfinger, einer der Enkel, begleitet die Aufräumarbeiten mit seiner | |
Kamera. | |
Siebzig Jahre lang hatten seine Großeltern in der Wohnung gelebt, nachdem | |
sie in den dreißiger Jahren aus Deutschland fliehen mussten. Goldfinger | |
will die Wohnungsauflösung filmisch festhalten – ohne zu ahnen, was er | |
dabei zwischen Briefen und Fotos entdeckt: Was hat es mit den Exemplaren | |
der Nazi-Zeitschrift Der Angriff auf sich? | |
Goldfinger erfährt, dass seine Großeltern mit dem SS-Offizier Leopold von | |
Mildenstein und seiner Ehefrau befreundet waren. Von Mildenstein bereiste | |
Palästina in den dreißiger Jahren und gehörte zu jenen Nazis, die den | |
Zionismus und die Emigration von Juden nach Palästina begrüßten. Auch nach | |
dem Holocaust hielten Goldfingers Großeltern den Kontakt zu dem Nazipaar | |
und besuchten sie in Deutschland. | |
Und so verlässt der Film schnell die Wohnung der Großeltern. Goldfinger | |
fliegt nach Deutschland, trifft die Tochter des SS-Offiziers und gräbt sich | |
durch Archive, um die Frage zu beantworten, die ihn umtreibt: Wie konnten | |
seine Großeltern die Freundschaft mit dem Nazi-Ehepaar pflegen, noch lange | |
nach dem Holocaust? | |
## Kultur des Schweigens | |
„Die Wohnung“ ist möglicherweise ein missverständlicher Titel, denn nur e… | |
kleiner Teil des Films begleitet die Wohnungsauflösung und zeigt, wie die | |
Wände nach und nach kahler werden. Vor allem ist jene Wohnung der | |
Ausgangspunkt einer Reise in die Geschichte einer deutsch-jüdischen | |
Familie. Vielleicht wäre „Zwei Wohnungen“ der passendere Titel gewesen, | |
denn Goldfinger stellt bei seinen Recherchen auch das Haus der Familie des | |
SS-Offiziers auf den Kopf. | |
Eindrücklich zeigt der Film Parallelen zwischen den Familien der Täter und | |
den Familien der Opfer. Sowohl in seiner eigenen Familie als auch bei der | |
Tochter des SS-Offiziers stößt Goldfinger auf eine Kultur des Schweigens | |
und Verdrängens. „Was so lange her ist, ist mir egal“, sagt Goldfingers | |
Mutter und wehrt sich zunächst gegen die Aufarbeitung ihrer | |
Familiengeschichte. | |
Goldfinger ist dabei nie distanzierter Dokumentarfilmer, sondern der | |
sympathische Held einer Detektivgeschichte. Seine unbequemen Fragen stellt | |
er freundlich und naiv. Immer wenn Goldfinger einer neuen Spur folgt und | |
vor der Tür einer deutschen Reihenhauses steht, hält er etwas unbeholfen | |
einen Blumenstrauß in der Hand. „Die Wohnung“ lebt auch von jüdischer | |
Komik. | |
Als Kind war Goldfinger häufig zu Besuch in der Wohnung seiner Großmutter. | |
„Wenn ich die Wohnung betrat, war ich in Berlin“, erzählt er. 70 Jahre | |
hatte Oma Gerda in Tel Aviv gewohnt, und trotzdem war sie in Israel nie | |
wirklich angekommen. Zeit ihres Lebens weigerte sich die Großmutter, | |
Hebräisch zu lernen. Mit ihren Enkelkindern sprach sie Englisch. Ihre | |
Heimat blieb trotz aller Verbrechen Deutschland. Die Freundschaft zu dem | |
Nazipaar ist für die Großeltern somit eine Möglichkeit, den Kontakt zu | |
Deutschland nicht zu verlieren. | |
## Ein „unbescholtener“ Reisejournalist | |
Die Kamera schaut dem Enkel über die Schulter, er ist sowohl als | |
Familienmitglied als auch als Dokumentarfilmer sehr präsent. Leider wird | |
diese besondere Perspektive des Films nicht aufgegriffen. Mehrfach sieht | |
der Zuschauer Arnon Goldfinger mit Kopfhörern und Stativ durch das Bild | |
laufen. Warum filmt er die Wohnungsauflösung und seine Recherche? | |
Leider bleibt es ungeklärt, ob seine Familie die Dokumentation der | |
Familiengeschichte befürwortet und warum sich auch die Tochter des | |
SS-Mannes für den Film zur Verfügung stellt, die durch den Film mit der | |
Geschichte ihres Vaters konfrontiert wird. | |
Ende der dreißiger Jahre verliert sich die Spur des SS-Offiziers von | |
Mildenstein, er taucht erst am Kriegsende wieder auf. Seine Tochter glaubt, | |
er habe sich im Streit mit der Parteiführung überworfen, bis zum Ende des | |
Krieges habe er „unbescholten“ als Reisejournalist gearbeitet. Es ist dann | |
die Rechercheleistung Goldsteins und der dramaturgische Höhepunkt des | |
Films, die Wahrheit über die Rolle von Mildensteins im Nazi-Regime | |
aufzudecken. | |
5 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
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