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# taz.de -- Erinnerung und Versöhnung: „Ich muss niemandem vergeben“
> Polnische Studierende laden Kommilitonen aus Ukraine, Deutschland und
> Weißrussland zum Studium ein. Der 2. Weltkrieg spielt kaum eine Rolle.
Bild: Deutsche und Polen sind nicht nur beim Protest gegen Braunkohleabbau vere…
Triefnass trudeln die zwölf Studierenden im neuen Vereinslokal ein, elf
Polen und eine Deutsche. Obwohl draußen Weltuntergangsstimmung herrscht,
sind alle bestens gelaunt und inspizieren gleich neugierig das neue Büro,
den kleinen Konferenzraum und die Küche.
Bartosz Walenda, 25, Politologiestudent und Vorsitzender der GFPS Polska.
Vereinigung für Wissenschaft und Kultur in Mittel- und Osteuropa, fragt
laut: „Fährt einer von euch am Montag nach Danzig? Zum Jahrestag des
Kriegsausbruchs? Präsident Gauck kommt aus Berlin. Na, und aus Warschau
natürlich Präsident Komorowski.“
Doch alle schütteln den Kopf. Paulina Bochenska, 30, die ihr Studium schon
abgeschlossen hat und als Tonmeisterin arbeitet, nimmt den Faden auf: „Hat
einer von euch gestern in der ARD den Film ’Agfa 1939. Meine Reise in den
Krieg‘ von Micha Wnuk gesehen? Das ist ein kleiner, aber ganz
hervorragender Film.“
Wieder schütteln alle den Kopf, schauen sie aber fragend an. „Ja“, nickt
sie, „ich habe den Sound gemacht. Er kommt sicher auch im polnischen
Fernsehen, außerdem eine deutsch-polnische Fernsehserie „Kriegsporträts“ …
fünf Teilen. Drei Filme sind schon fertig.“
## Die jüdische Geschichte Lublins
Paulina und Bartosz sprechen fließend Deutsch. Auch die anderen
GFPS-Mitglieder wechseln problemlos von einer Sprache in die andere. Nur
Magdalena Polloczek, 24, die zwar einen polnisch klingenden Namen hat, aber
aus Deutschland kommt und zurzeit intensiv an der Warschauer Uni polnische
Grammatik büffelt, beißt sich tapfer durch: „Verstehen tue ich schon viel�…
sagt sie. „Aber mit dem Reden hapert es noch ein bisschen.“
Aleksander Rudzinski, 22, Geschichtsstudent aus Lublin, legt ihr beruhigend
die Hand auf die Schulter: „Ich habe mein Deutschabenteuer noch vor mir.
Zurzeit haben Griechisch und Latein Vorrang.“ Aleksander hatte bei einer
Stadtführung auf den Spuren der Juden Lublins einen deutschen
GFPS-Stipendiaten kennengelernt, der sich für die gleichen Themen
interessierte, erklärt er Magda.
„Wir haben dann gemeinsam ein Projekt zur jüdischen Geschichte Lublins im
Mittelalter realisiert, dann nahm ich an den sogenannten GFPS-Städtetagen
teil, fand die Leute dort sympathisch – und blieb bei dem Verein.“ Er rückt
die Hornbrille zurecht: „Insofern, Magda – du sprichst schon hundertmal
besser Polnisch als ich Deutsch.“
Der Verein entstand 1984 in Freiburg im Breisgau. Einige polenbegeisterte
Studenten gründeten damals die Gemeinschaft zur Förderung von
Studienaufenthalten Polnischer Studenten in der Bundesrepublik Deutschland
e.V. (GFPS).
## Studienjahr hinter dem Eisernen Vorhang
Nur besonders abenteuerlustige Studenten und Studentinnen wagten es in der
Zeit des Realsozialismus, ein Studienjahr hinter den Eisernen Vorhang zu
verbringen. Die Idee hinter der Vereinsgründung hatte weniger mit dem
Versöhnungsgedanken nach 1945 zu tun als mit Freiheit und Freundschaft über
Grenzen hinweg.
Begabte, engagierte und sympathische junge Studierende aus Polen sollten
die Möglichkeit erhalten, ein Studienjahr in Deutschland zu verbringen.
Zwar gab es auch damals offizielle Austauschprogramme – aber kritische
Geister fielen fast immer durch das Auswahlverfahren, zu dem Parteinähe
oder -mitgliedschaft gehörten.
Bei GFPS hatte gesellschaftliches Engagement Vorrang. Zwar war das Wort
Zivilgesellschaft noch nicht in aller Munde, doch letztlich ging es genau
darum: im Schnellballsystem durch ehrenamtlich arbeitende Studierende ein
Netzwerk zu schaffen.
Das Modell erwies sich als so erfolgreich, dass 1994 in Krakau GFPS Polska
entstand – und 2004 Polska-CZ im tschechischen Ústí nad Labem. Hier können
sich nicht nur Deutsche um Stipendien der Stiftung für Deutsch-Polnische
Zusammenarbeit für Sprachkurse oder ein Studiensemester bewerben. Im
Oktober werden elf Studierende in Polen erwartet: neun aus Deutschland,
drei aus Weißrussland.
## Die normale Versöhnung
Während Bartosz das neue Vereinsstatut verteilt, über das beraten und
abgestimmt werden muss, greift Paulina das Thema Versöhnung auf. „Diese
Filme zu Krieg und Erinnerung werden von jungen Leuten gemacht, von unserer
Generation. Das ist eigentlich ganz interessant, dass wir heute schon und
in Zukunft noch mehr die Form der Erinnerung an den Krieg bestimmen
werden“, sagt sie und wendet sich Katarzyna Wojnicka, 27, zu.
Die zuckt mit den Achseln. „Ehrlich gesagt, sehe ich für mich im Moment
keine Möglichkeit, mein Forschungsthema – Aussöhnung zwischen Deutschen,
Polen und Israelis – weiterzuverfolgen. Da fehlt es an politischem Willen.
Es gibt kaum eine Institution, die dieses schwierige Dreiecksverhältnis mit
Leben erfüllt.“
Nach einem Studienjahr in Berlin, einem Aufenthalt in Israel und einigen
Wochen als Freiwillige in der Gedenkstätte Auschwitz und der
deutsch-polnischen Jugendbegegnungsstätte im niederschlesischen Kreisau
arbeitet sie nun für das Wirtschaftsforum in Krynica/Südpolen. „Das ist
spannend. Ich bin Ansprechpartnerin für Deutschland, Österreich und die
Schweiz.“
Marcin Gorecki, 27, der gerade von einem fünfmonatigen Bundestagspraktikum
zurückgekommen ist, findet es zwar wichtig, dass der deutsche Präsident
nach Danzig kommt, um gemeinsam mit seinem polnischen Pendant an den
Ausbruch des Krieges zu erinnern, wichtiger noch aber sei die Versöhnung
der ’normalen Menschen‘.
## Befreundet mit allen
„Ich brauche, ehrlich gesagt, weder eine Versöhnung noch eine Verständigung
oder gar einen Dialog. Wir leben in einem grenzenlosen Europa und ich
freunde mich mit sympathischen und offenen Menschen an, ob das nun Deutsche
sind oder Franzosen, Tschechen oder Slowaken.“
Er nippt an seinem Cappuccino: „Seit wir auch Weißrussen und Ukrainer
einladen, habe ich auch viel von ihnen gelernt. Das ist ein ständiges Geben
und Nehmen. Da spielt der Krieg vor 70 Jahren kaum noch ein Rolle.“
Bartosz Walenda ruft alle in den breiten, lichtdurchfluteten Flur: „Pizza!
Leckere Pizza! Wir müssen doch den Einzug ein bisschen feiern“. Er sieht
aus dem Fenster. Es tröpfelt nur noch. Die Sonne blinzelt schon wieder
durch die Wolken. Irgendwo mitten in der Skyline Warschaus zeichnet sich
ein Regenbogen ab.
Bartosz öffnet das Fenster und grinst über das ganze Gesicht: „Das ist zwar
Gewerbegebiet und liegt weit draußen, aber mit der Straßenbahn ist man in
20 Minuten im Stadtzentrum. Und die Miete ist so günstig, ein Schnäppchen
gewissermaßen, da mussten wir einfach zugreifen.“
## Ignoranz gegenüber Polen
Er nimmt sich ein Stück Salamipizza und sagt: „Versöhnung ist nach wie vor
wichtig. Jede neue Generation in Polen, Deutschland, Tschechien, in
Weißrussland und der Ukraine muss von neuem mit der gemeinsamen Geschichte
klarkommen.
Jede Generation muss ihren eigenen Weg finden, wie sie mit der gemeinsamen
Geschichte umgeht.“ Die Jungen könnten wohl kaum etwas tun, um die Älteren
miteinander zu versöhnen. Das seien ganz andere Gefühle, vielleicht noch
immer offene oder nur oberflächlich vernarbte Wunden.
„Ich habe nicht das Gefühl“, so Bartosz, „dass ich jemandem vergeben
müsste. Aber, ehrlich gesagt, ich bin immer wieder schockiert, wenn mir
Berliner erzählen, dass sie noch nie in Polen waren. Die Grenze ist gerade
mal 70 Kilometer entfernt. Eine solche Ignoranz einem Nachbarland gegenüber
ist schwer zu ertragen.“
Andererseits gebe es immer mehr Deutsche, die sich für Polen interessierten
und auch Polnisch lernten. „Sicher gestalten wir von GFPS die Erinnerung an
die Vergangenheit mit“, sagt er. „Aber wichtiger für uns ist die gemeinsame
Zukunft in Europa. Irgendwann werden auch die Weißrussen und Ukrainer zum
freien Europa dazugehören, später auch die Moldawier, die Kasachen und –
wer weiß, eines Tages – auch die Russen.“
1 Sep 2014
## AUTOREN
Gabriele Lesser
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