# taz.de -- „Good Music“ im Auswandererhaus: Neue Klänge für die neue Hei… | |
> Das Bremerhavener Auswandererhaus mit der Ausstellung „Good Music“ einen | |
> Blick auf den kaum erforschten Zusammenhang von Migration und Musik | |
Bild: Voss’ First Regiment Band bespielte schon um 1890 Edisons Phonographenw… | |
Gesungen wurde viel, besonders über Heimweh. Lang ist die Liste der | |
Auswandererlieder, von „Ach aus allen Ländern strömet“ über „Ich verka… | |
mein gut und Häuslein“ bis hin zu „Zwei Schiffe kamen gefahren“, das | |
Hoffmann von Fallersleben gedichtet hat: Die ewige Warterei bis und dann | |
die Zeit der Überfahrt, man musste sie sich ja vertreiben. Und immer | |
spielte eine Blaskapelle am Pier, Ende des 19., Anfang des 20. | |
Jahrhunderts: Nehmt Abschied Brüder … Aber was wird danach daraus? | |
Zum Beispiel eine Sonderausstellung, wie die aktuelle mit dem Titel „Good | |
Music“ des Deutschen Auswandererhauses (DAH) in Bremerhaven. Und das ist | |
spannend. Denn Musik und Migration, das ist ein bislang zwar kaum | |
erschlossenes, aber großes und unmittelbar einleuchtendes Thema. Auch | |
aktuell fungieren Ensembles wie das 2015 in Bremen gegründete [1][Syrian | |
Expat Philharmonic Orchestra] als Pioniere der Verständigung: Musik ist ein | |
Medium zur Herstellung von Gemeinschaft und konnte – bis zur Erfindung der | |
Kopfhörer – nichts anderes sein. | |
Das Bewusstsein für den nationsbildenden Charakter der Klangkunst ist Ende | |
des 19. Jahrhunderts wach in den Vereinigten Staaten: „Concerts are | |
harmonizing all classes in the democracy of music“, bringt es ein | |
unbekannter Kritiker 1875 in der Minneapolis Tribune auf den Punkt: | |
Konzerte versöhnen alle Klassen in der Demokratie der Musik. | |
Trotzdem hatte es beim DAH eines Glücksfundes bedurft, um sich ans Sujet | |
heranzutasten. Herzstück der Ausstellung ist eine Sammlung von Briefen | |
zweier in die USA ausgewanderter Musiker, der Brüder Louis und Friedrich | |
Schütz an die Verwandten in Deutschland: Erst, ab 1880, mit Briefen an die | |
Mutter. Später an den älteren Bruder, der den Hof in Neuanspach-Westerfeld | |
im Hochtaunus übernommen hat. Die Enkelgeneration beendet die | |
Überseekorrespondenz Jahrzehnte nach dem Tod ihrer Initiatoren im Jahr | |
1963. Längst hat die Schreibmaschine die Sütterlin-Handschrift abgelöst, | |
und längst ist das Deutsch mit leichter hessisch-dialektaler Färbung ein | |
fröhlich-amerikanisiertes Pidgin geworden, das die Tuba zum Neutrum macht | |
und die Klarinette als „gar trubelsames Instrument“ beschreibt. | |
## Ein echter Glücksfall | |
Im Grunde habe nicht er diesen Schatz gefunden, sagt Gastkurator Diethelm | |
Knauf. „Eher hat mich der Briefwechsel gefunden.“ Bernd Höser, Ururenkel | |
des im Taunus gebliebenen Schütz-Bruders, hatte Bremerhaven kontaktiert. | |
Auslöser war eine Zeitungsanzeige gewesen: Mit denen sucht das DAH | |
regelmäßig nach derartigen Nachlässen. Ein echter Glücksfall fürs DAH. | |
Louis Schütz hatte in Deutschland das Klarinettespielen gelernt. | |
Autodidaktisch erst, für die dörfliche Blaskapelle, dann fünf Jahre im | |
Korps des 88. Infanterieregiments zu Mainz. Und Musik ist seine Chance in | |
den USA: Für Leute, die den Takt halten und einen Ton treffen können, | |
möglichst mit mehreren Instrumenten, gibt es Arbeit. Trotz oder gerade | |
wegen der Großen Depression (1873–1896): Wie soll man der lastenden | |
Deflation entkommen, wenn man nicht für gute Stimmung sorgt, Konsumanreize | |
schafft, die Geldzirkulation durch die entstehende Unterhaltungsindustrie | |
ankurbelt? Jobs gibt es so viele wie Anlässe, zu spielen. Und die USA sind | |
ein Land der unbegrenzten Anlässe: An den Strandpromenaden stehen | |
Pavillons, in die eine Blaskapelle gehört, Music Halls werden gebaut, in | |
die eine Blaskapelle gehört, dank elektrischem Licht ist eine Serenade | |
schnell organisiert, Hauptsache, man hat eine Band. Wenn die Leute tanzen | |
lernen wollen, müssen sie in die Tanzschule – da spielt eine reduzierte | |
Besetzung. | |
Feste vom Emancipation Day über Washington’s Birthday bis zum Independance | |
Day sind ohne Musik unvorstellbar. Vor und nach der Rede eines | |
Präsidentschaftskandidaten spielt eine Band. Man wirbt mit einer Band um | |
Spenden. Wenn ein Eisenbahnteilabschnitt oder eine neue Dampferlinie | |
einzuweihen ist, erwartet sie an Kai oder Bahnsteig eine Kapelle – und eine | |
weitere fährt mit. | |
Andere Orchester gibt es auch. Und die Übergänge sind fließend, das zeigen | |
die Lebensläufe von heute meist vergessenen Stars des 19. Jahrhunderts: | |
Theodore Thomas, 1835 in Esens, Ostfriesland, geboren. Ein | |
Geigenwunderkind, das schon mit acht den Lebensunterhalt von Eltern und | |
Geschwistern durch seine Auftritte auf Bauernhochzeiten bestreitet, wird, | |
kurz nachdem die Familie 1845 nach Amerika ausgewandert ist, gemeinsam mit | |
seinem Vater Mitglied in der Navy-Band. Berühmt wird er als Gründer und | |
Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra. | |
## Sechsmal so viele Musiker wie heute | |
Joseph Noll, in Deutschland geboren und ausgebildet, avanciert Mitte des | |
Jahrhunderts zu einer der bestimmenden Figuren in New Yorks | |
Kammermusikszene, wird Konzertmeister der Philharmonic Society of New York | |
und zugleich Dirigent der dortigen Seventh Regiment Band. | |
Nach der epochalen Studie „The Musicmen“ von Maragret Hindle Hazen und | |
ihrem Mann Robert gibt es 1889 rund 10.000 Bands in den Staaten, 30.477 | |
Menschen leben laut US-Zensus von der Musik. Das seien in etwa sechsmal so | |
viele ProfimusikerInnen wie SchauspielerInnen in dieser Zeit. | |
Während in den 1830er-Jahren Aléxis de Tocqueville noch über die lamentable | |
Qualität der Musikaufführungen in Amerika klagt, sind Ende des Jahrhunderts | |
die Ansprüche an die Instrumentalisten gestiegen: „Als ich hierher kam, da | |
habe ich erst eingesehen, dass ich kein Klarinettist war und habe manchmal | |
bedauert, dass man keine richtige Schule durchgemacht hat“, stellt Louis | |
Schütz 1883 fest. | |
Dabei hatte es für ihn direkt nach der Ankunft 1880 noch gereicht, in der | |
First Regiment Band eines gewissen Professors Frederick Voss unterzukommen, | |
die ihm fast 30 Jahre lang ein gesichertes Auskommen bietet. Schon 1883 ist | |
sein Einfluss dort groß genug, auch seinen Bruder Fritz unterzubringen. | |
„Wenn er erst hier ist, so soll es meine Sorge sein ihm fortzuhelfen“, | |
beruhigt er in einem Brief vom 12. Juli 1883 die Mutter, als Friedrichs | |
Auswanderungspläne sich konkretisieren. Im Spätherbst, kurz vor | |
Weihnachten, ist Fritz Schütz in New York gelandet, völlig geflasht von der | |
Stadt. Auf der Passagierliste hat er „musician“ als Beruf eintragen lassen. | |
„Das kommt sehr selten vor“, sagt Auswandererhaus-Direktorin Simone Eick. | |
Klar: Denn auch schon damals war der Anteil der Profimusiker in der | |
Bevölkerung verschwindend gering. | |
Die Karriere der Schütz-Jungs in den USA läuft – in Westerfelde geht | |
derweil der Hof den Bach runter, der Bruder kann sich auf eine | |
Postmeisterstelle retten. Und auch die DAH-Ausstellung inszeniert die Leben | |
der zwei Hessen in Newwark und der Daheimgebliebenen im Taunus als | |
Gegenüberstellung mithilfe von Notenpulten und Orchesterstühlen. Wie muss | |
denen in der Heimat der Mund wässrig geworden sein angesichts der | |
Schwärmereien von opulenten Frühstücken mit Kaffee, Eiern, Beefsteak, | |
Schinken, kaltem Braten, von mittäglichen Tafelfreuden und ausgedehnten | |
Soupers am Abend. | |
## Müstergültig erschlossene Briefsammlung | |
Die Einwanderer dominieren die Podien: Noch 1870 sind die meisten | |
Profimusiker laut US-Zensus ImmigrantInnen. Und John Philipp Sousa, 1854 | |
als Sohn eines Portugiesen und einer Deutschen in Washington, D.C., | |
geboren, avanciert zum Superstar der Bandszene. Nach seiner Einschätzung | |
auch, weil er sich einen Bart hat wachsen lassen, „um ausländisch zu | |
wirken, damit Amerikaner meine Musik ernst nehmen“. | |
Etwas zu kursorisch bleibt bei der aktuellen Ausstellung des DAH die | |
Kontextualisierung. Zumal der musikhistorische Part dünn wirkt. Man hat | |
zwar frühe Musikeinspielungen verfügbar gemacht – aber die Auswahl wirkt | |
beliebig, und die Voss-Band, als eine der ersten Gruppen, die überhaupt | |
Aufnahmen gemacht hat, fehlt ganz. „Keiner weiß, wie die geklungen hat“, | |
behauptet Kurator Knauf und beteuert: „Ich habe danach gesucht, das können | |
Sie mir glauben.“ | |
Allerdings offenbar an der falschen Stelle: Das auf die Digitalisierung von | |
Wachszylinder-Abtastungen spezialisierte Label Tinfoil aus Portland hat | |
[2][einen Sampler im CD-Sortiment, auf dem Voss und seine Leute immerhin | |
drei Stücke spielen]. Die verschickt es für 15 Dollar plus acht Dollar | |
Frachtkosten auch nach Übersee. Das Risiko der Investition scheint gering. | |
Für die oft gerühmte hohe Tonqualität der frühen Aufnahmen in den | |
Edison-Studios, so schwärmt Steve Sullivan in seiner „Encyclopedia of Great | |
Popular Song Recordings“, sei „the 1st Regiment Band’s recording of One | |
Minute Too Late […] the definitive example“. | |
Mustergültig hat man in Bremerhaven hingegen die Briefsammlung selbst | |
inszeniert und erschlossen: Jeder Brief hat, mit Umschlag und Postnotizen, | |
einen Rahmen für sich, wie ein Meisterwerk. Über die ganze, breite Wand | |
erstreckt sich so die Korrespondenz als eindrucksvoller, inspirierender | |
Schatz. Den kann jeder bequem an Display-Inseln heben: Dort ist es nämlich | |
möglich, anhand von Stichworten durch die transkribierten Texte zu | |
navigieren – und einzutauchen in diesen eigenartigen wahren | |
Auswandererroman in 130 Briefen. | |
„Good Music – Zwei deutsche Musiker in Amerika 1880–1939“: täglich, 10… | |
18 Uhr, bis 31. Januar 2018, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven | |
23 Aug 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.sepo-philharmonic.com/ | |
[2] http://www.tinfoil.com/vo-bwna.htm | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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