| # taz.de -- Chronik eines Reiseschriftstellers: Ein Sittenbild der Migration | |
| > Die Auswanderungsbedingungen 1884 an Bord der „Galileo“ hat der | |
| > italienische Schriftsteller Edmondo De Amicis aufgeschrieben. | |
| Bild: Auswanderung nach Amerika. Hier in Bremerhaven. | |
| Ach, all dies italienische Elend!, dachte ich, als ich ins Achterschiff | |
| zurückkehrte. Und jedes Schiff, das aus Genua abfährt, ist voll davon … | |
| Dabei konnten sich die Auswanderer auf der ,Galileo‘ noch glücklich | |
| schätzen: wenigstens während der Überfahrt, denn viele andere waren in den | |
| vergangenen Jahren aus Platzmangel im Laderaum wie Vieh an Deck | |
| transportiert worden, wo sie wochenlang völlig durchnässt und in einer | |
| Hundekälte campieren mussten; und sehr viel andere wären auf Schiffen, wo | |
| es an allem fehlte, vor Hunger und Durst oder an verdorbenem Fisch und | |
| fauligem Wasser fast verstorben. Immer hat es Tote gegeben.“ | |
| Der italienische Reiseschriftsteller De Amicis erzählt von einer | |
| Atlantiküberfahrt von Genua nach Montevideo in Uruguay. An Bord sind 1.800 | |
| Passagiere, davon 1.600 italienische Bauern und Tagelöhner, der Rest sind | |
| wohlhabendere Italiener, Schweizer, Österreicher und Franzosen. | |
| Im Frühjahr 1884 schiffte sich De Amicis in einer Kabine der ersten Klasse | |
| auf dem Ozeandampfer „Galileo“ ein, um über die italienischen Auswanderer | |
| zu schreiben, als Chronist ihrer Reisebedingungen. Die „Galileo“ war eines | |
| der vielen Emigrantenschiffe, auf denen Tausende Italiener aus | |
| Perspektivlosigkeit und Not nach Südamerika emigrierten. Die Emigranten | |
| reisen zusammengepfercht in der dritten Klasse im Bauch des Dampfers, das | |
| Bürgertum reist in der zweiten, der Adel in der ersten Klasse. | |
| Die Passagiere der oberen Klassen treffen sich beim Käpitäns-Dinner und | |
| trotzen ihrer Langweile bei der 10-tägigen Überfahrt mit zumeist gesitteter | |
| Konversation. Denen unter Deck leisten sie manchmal wohltätig Hilfe. Es ist | |
| ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Ein „Staat in Miniaturform, dessen | |
| Regierung der Kapitän und die Offiziere, und dessen Justiz der | |
| Auswanderungskommissar darstellt“, schreibt De Amici. | |
| Immer wieder schleicht er sich in den Schiffsbauch, um dort in stickiger | |
| Enge zu beobachten, wie sich junge Männer, Familien, Frauen zusammenraufen. | |
| Eifersüchteleien, Flirts, Streit, Prügeleien sind alltäglich; nicht nur | |
| einmal muss der Kommissar eingreifen, um Konflikte zu schlichten. | |
| Nicht Abenteuerlust treibe die Landarbeiter und Tagelöhner nach Amerika, | |
| schreibt De Amici. „Um sich zu überzeugen, genügte ein Blick auf die vielen | |
| kräftig gebauten Körper in der Menge, die durch Entbehrung vom Fleisch | |
| gefallen waren, auf die vielen stolzen Gesichter, die erzählten, wie lange | |
| diese Menschen geblutet hatten, bevor sie das Schlachtfeld verließen.“ | |
| Erri de Luca – der italienische Autor und Aktivist – schreibt im Nachwort | |
| zu „Auf dem Meer“: „In Zeiten der meisten Ablehnungen wurden auf Ellis | |
| Island im Schatten der Freiheitsstatue höchstens zwei Prozent der | |
| Angekommenen abgewiesen. Heute zählen wir schon zwölf Prozent Ertrunkene. | |
| ,Auf dem Ozean‘ lesen bedeutet zu erschauern, angesichts des Gegensatzes | |
| zwischen den zivilen Zuständen von damals und der Barbarei von heute. ‚Auf | |
| dem Ozean‘ lesen widerlegt den Fortschritt, den die moderne Welt für sich | |
| beansprucht“, folgert er. | |
| Eine sehr pessimistische Sichtweise, auch wenn die Aufnahmechancen der | |
| Emigranten in Amerika damals größer waren, denn die Pfründen und das Land | |
| waren noch nicht restlos verteilt. | |
| Der Umgang mit den Auswanderern an Bord der „Galileo“ unterscheidet sich | |
| aber vor allem dadurch, dass sie als Landsleute gesehen werden. Ja, auch | |
| die Armen im Unterdeck sind letztendlich Italiener, denen eine ordentliche, | |
| christliche Beerdigung zusteht. | |
| „Ich musste an Fausts letzten Traum denken“, schreibt De Amici. „Vielen | |
| Tausenden eine neu Welt eröffnen und darin eine arbeitsame, freie, und | |
| glückliche Menschheit aufblühen sehen. Nur darum lohnt es sich zu leben, | |
| denn das Vaterland und die Welt, das seid ihr, und solange ihr auf dieser | |
| Erde weinen müßt, wird jedes Glück der anderen Egoismus sein. Und alles | |
| worauf wir stolz sind, eine Lüge.“ | |
| Pathetische Worte über das Elend der Mittellosen, mit denen es vonseiten | |
| der Begüterten immerhin eine gemeinsame nationale Identität gibt. Das haben | |
| die Auswanderer auf der „Galileo“ den heutigen Migranten voraus: Sie waren | |
| nicht gänzlich identitäts- und gesichtslos wie die Menschen, die an Europas | |
| Küste angeschwemmt werden. Und es war vor allem eine legale Überfahrt mit | |
| Fahrkarte und auf einem sicheren Schiff. | |
| Den Menschen, die heute über das Mittelmeer kommen, fühlt sich niemand | |
| verbunden. Sie sind vogelfrei. Kein Nationalismus, kein emphatisches | |
| Bekenntnis rettet sie. Allenfalls spontane Hilfsbereitschaft und | |
| internationales Recht. | |
| 4 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Edith Kresta | |
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