# taz.de -- „1938 Projekt: Posts from the Past“: Jeden Tag ein neues Schick… | |
> Beim „1938 Projekt“ posten die Macher täglich persönliche Archivdokumen… | |
> von Juden in Social-Media-Kanälen. In Niedersachsen gibt es dazu eine | |
> begleitende Ausstellung. | |
Bild: Kind ohne Eltern: Die Ausstellung zum „1938 Projekt“ zeigt zwölf Sch… | |
BRAUNSCHWEIG taz | „Inzwischen ist das Neue Jahr gekommen. Was wird es uns | |
bringen?“, tippte der gerade in die USA emigrierte Otto Neubauer am 2. | |
Januar 1938 in Columbus, Ohio, in seine Schreibmaschine. Sein Brief | |
richtete sich an seine Familie in Deutschland. | |
Die bange Skepsis war angebracht, denn Neubauer und seine Angehörigen waren | |
Juden. Und das Jahr 1938 bedeutete in Deutschland sowie in weiteren Ländern | |
Europas dramatische Verschlechterungen für ihre, seit Hitlers | |
Machtergreifung ohnehin schon bedrohliche Situation. Ob der Familie | |
Neubauer aus Mannheim noch die Flucht gelang – man weiß es nicht, man kann | |
es nur hoffen. | |
Der Brief ist jetzt das chronologisch zweite persönliche Dokument in einem | |
auf 365 Einträge angelegten Online-Kalender, mit dem das Leo Baeck Institut | |
aus New York und Berlin das Jahr 1938 aus der Perspektive der vielen | |
Betroffenen nachzeichnen will. Mit dem kalendarischen Tagebuch „1938 | |
Projekt. Posts from the Past“, das als Website und auf gängigen | |
Social-Media-Kanälen erscheint, will sich das Institut bewusst an eine | |
junge Generation, an Schulen und Bildungseinrichtungen wenden. Denn die | |
letzten Zeitzeugen sterben und es wird schwieriger, die historisch | |
besondere Qualität subjektiver Authentizität aufrechtzuerhalten. | |
Das Leo Baeck Institut wurde 1955 von jüdischen Emigranten in New York als | |
Archiv, Bibliothek sowie Kunstsammlung gegründet und widmet sich dem | |
geistigen, kulturellen und persönlichen Vermächtnis des deutschsprachigen | |
Judentums. Der Namensgeber Leo Baeck (1873-1956) war deutscher Rabbiner und | |
einflussreicher Vertreter des liberalen Judentums. Obwohl es Angebote zur | |
Emigration gab, blieb er im NS-Deutschland, vertrat so gut es noch ging die | |
Sache der Juden Europas, überlebte schwer gezeichnet das KZ Theresienstadt | |
und siedelte im Juni 1945 nach London über. | |
Bis Ende 1937 hatte schätzungsweise ein Viertel bis ein Drittel der | |
jüdischen Bevölkerung Deutschlands seine Heimat verlassen. Darunter waren | |
Prominente aus Wissenschaft und Kultur, etwa der Physiker Albert Einstein. | |
Der Nobelpreisträger war international bestens vernetzt, besaß seit 1901 | |
neben der deutschen auch die schweizerische Staatsbürgerschaft und gab | |
bereits 1933 seinen deutschen Pass ab, als er einem Ruf nach Princeton | |
folgte. | |
Andere taten sich schwerer, alles hinter sich zu lassen. Der | |
österreichische Theaterreformer Max Reinhardt, lange in Berlin tätig, ging | |
im Oktober 1937 ins amerikanische Exil. Dieser Entschluss, schrieb er an | |
die politisch Verantwortlichen in Deutschland, sei ihm naturgemäß nicht | |
leicht gefallen, denn er verliere nicht nur die Frucht einer 37-jährigen | |
Tätigkeit: „Ich verliere meine Heimat.“ | |
Ähnlich fühlten wohl die meisten. Und hat man jemals das autobiografische | |
„Epochengemälde“gelesen, in dem der Berliner Architekturhistoriker Julius | |
Posener 1990 sein Leben Revue passieren ließ, so begegnet man dem | |
illusorischen Verdrängen – und Hoffen, dass die politische Situation in | |
Deutschland sich doch noch zum Positiven wenden möge. | |
Schlag auf Schlag war es 1938 gegangen: im Januar kam das Gesetz, das | |
deutschen Juden einen zweiten, sie als solche ausweisenden Vornamen | |
vorschrieb. Im März kam der sogenannte Anschluss Österreichs, 190.000 | |
dortige Juden verloren ihre Rechte. Angesichts neuer Migrationswellen rief | |
US-Präsident Franklin D. Roosevelt zur Flüchtlingskonferenz ins | |
französische Évian-les-Bains, sie endete im Juli weitgehend ergebnislos: | |
Großbritannien bot die Einreise nach Ostafrika, Amerika die jährliche | |
Aufnahme von 27.370 Emigranten aus Deutschland und Österreich an. | |
Ab April begann der sukzessive Entzug jüdischen Vermögens und die | |
„Arisierung“ der Wirtschaft, im Mai die entschädigungslose Beschlagnahmung | |
„entarteter Kunst“ jüdischer Kunstschaffender auch aus privatem Besitz. Im | |
Juni die Verhaftung 9.000 sogenannter „Arbeitsscheuer“, darunter 2.300 | |
Juden, und ihre Deportation ins KZ Buchenwald. Im Juli wurde jüdischen | |
Ärzten die Approbation entzogen, im September jüdischen Anwälten die | |
Zulassung. | |
Ende Oktober erfolgte die handstreichartige Abschiebung etwa 17.000 | |
polnischer Juden, da Polen mit Ablauf des Oktobers spezielle | |
Einreisevorschriften plante. In der Nacht vom 9. auf 10. November wüteten | |
Pogrome in Deutschland, Österreich und dem Sudetenland, über 90 Juden | |
wurden getötet, 267 Synagogen in Brand gesteckt oder zerstört, jüdische | |
Geschäfte verwüstet. Im Dezember erreichte der erste „Kindertransport“ | |
England: trotz grundsätzlichen Einreiseverbots fanden bis Kriegsbeginn etwa | |
10.000 Kinder und Jugendliche bei Pflegeeltern Aufnahme, viele sollten die | |
einzigen Überlebenden ihrer Familie sein. | |
Der kaum noch zu bewältigende Alltag, vereitelte Hoffnungen auf Ausreise, | |
Verzweiflung, aber auch die willkommene Ablenkung in Kultur und Amüsement: | |
davon erzählen nun die persönlichen Dokumente des Online-Tagebuchs, täglich | |
wird es um ein neues Kapitel erweitert. | |
Als Anreißer in der „realen Welt“ dient eine Begleitausstellung aus zwölf | |
ausgewählten Geschichten auf sechs Ausstellungstafeln. Derzeit findet die | |
Deutschlandpremiere in Wolfsburg statt. Der Ort ist natürlich nicht | |
zufällig gewählt, ist die Stadt ja selber eine NS-Gründung des Jahres 1938. | |
So wie die Region um Braunschweig, die im Februar 1932 den staatenlosen | |
Hitler einbürgerte, als Dank zum NS-Musterland aufgebaut werden sollte. | |
Salzgitter etwa erhielt 1938 mit den „Reichswerken Hermann Göring“ für | |
Erzbergbau und Eisenhütten nicht nur Europas damals größte Baustelle, | |
sondern – bis Kriegsende – auch den kapitalstärksten Konzern im Deutschen | |
Reich. | |
Aber die Region zwischen Harz und Heide war auch die Wiege des humanistisch | |
aufgeklärten, liberalen Judentums, von hier gingen im 18. und 19. | |
Jahrhundert weltweite Impulse aus. Um dieses, durch die NS-Zeit so | |
tiefgreifend zerstörte Erbe universalistischer Werte bemüht sich das 2016 | |
ins Leben gerufene Israel Jacobson Netzwerk mit seinen rund 30 | |
institutionellen, kommunalen wie privaten Mitgliedern, derzeit mit einem | |
umfangreichen Begleitprogramm zum „1938 Projekt“. | |
24 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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