# taz.de -- Griechenland und die EU: Syriza gewinnt Zeit und Raum | |
> Ist die griechische Linke vor der EU eingeknickt? Für ein endgültiges | |
> Urteil ist es zu früh. Doch eine alternative Lesart ist möglich. | |
Bild: „Was kommt als nächstes?“: Graffiti in Athen. | |
Wenn man den Schlagzeilen einiger Zeitungen glauben soll, sei also Athen | |
vor den Forderungen der Eurogruppe in die Knie gegangen (La Repubblica) und | |
mache bereits den Schritt zurück zur Fortsetzung der Austeritätspolitik | |
(The Guardian). Auch nach Ansicht einiger führender Mitglieder der linken | |
Fraktion von Syriza habe der Mut nicht weit gereicht, und die | |
Selbstverleugnung habe schon begonnen … | |
Es ist noch zu früh, um ein Urteil über die Vereinbarungen beim Treffen der | |
Eurogruppe zu fällen. Bereits jetzt aber schlagen wir eine andere Methode | |
zur Analyse der Konfrontation zwischen der griechischen Regierung und den | |
europäischen Institutionen vor. Die Erstere musste Kompromisse akzeptieren, | |
auf der Gegenseite zeichnen sich Risse ab. An welchen Kriterien sollen wir | |
das Vorgehen des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras und des | |
griechischen Finanzministers Janis Varoufakis messen, um über dessen | |
Wirksamkeit und Richtigkeit zu urteilen? | |
Wir schicken voraus, dass der durch den Wahlsieg von Syriza eröffnete | |
Konflikt zu einem Zeitpunkt kommt, an dem sich Europa in einer zugespitzten | |
Krise befindet. An den Grenzen der Union, im Osten, Süden und Südosten, | |
toben Kriege. Bei Katastrophen im Mittelmeer ertrinken Tausende von | |
Migranten. Beides vermittelt den Eindruck einer Auflösung des europäischen | |
Raums. | |
Aber es gibt diesbezüglich auch andere Aspekte, und diese haben sich mit | |
der Rezession der vergangenen Jahre in dramatischer Weise vervielfacht. | |
Mehr oder weniger rassistische und neofaschistische politische Kräfte | |
greifen überall auf dem Kontinent nach der Macht. In diesem Kontext | |
erscheinen der Wahlsieg von Syriza und der Vormarsch von Podemos in Spanien | |
wie eine einzigartige Chance, auf gesamteuropäischer Ebene eine linke | |
Politik mit der Ziel der Gleichheit und Freiheit neu zu erfinden. | |
Wir vergessen dabei nicht, dass dies durch außerordentliche | |
Massenmobilisierungen gegen die Austerität in Griechenland und in Spanien | |
überhaupt möglich wurde. Dieser Kampf, der sich „horizontal“ ausdehnte, | |
stieß auf ebenso starke vertikale Grenzen: die Macht der Banken und | |
Finanzinstitutionen im heutigen Kapitalismus und die dank der Krise | |
entstandene neue politische Machtverteilung. Das heißt, der Kampf stieß auf | |
das, was wir vor Jahren die „Revolution von oben“ genannt haben, dessen | |
Instrument und Symbol die Troika war. | |
## Konfrontation mit der „vertikalen“ Achse der Macht | |
Auf diese Grenzen stieß Syriza unmittelbar, nachdem es ihr gelungen war, | |
auf dem Terrain eine „vertikale“ Achse der Macht zu schaffen, indem sie den | |
Ruf zum Widerstand gegen die Austerität in den Palästen Europas erschallen | |
ließ. Augenblicklich war sie mit der etablierten Macht in Europa | |
konfrontiert und der Gewalt des Finanzkapitals ausgesetzt. Es wäre naiv, zu | |
meinen, die griechische Regierung könne allein diese Grenzen überwinden. | |
Selbst ein Land mit viel mehr ökonomischem Gewicht und einer größeren | |
Bevölkerung als Griechenland hätte nicht die Mittel dazu. Falls nötig, | |
belegen die Ereignisse nur, dass eine Politik der Freiheit und Gleichheit | |
sich in Europa nicht mit der bloßen Berufung auf nationale Souveränität | |
herausbildet. | |
Und dennoch hat sich hinsichtlich dieser erwähnten Grenzen und der | |
Möglichkeit, sie zu überwinden, etwas Neues ergeben. Die Kämpfe und | |
Protestbewegungen hatten bereits ihren hässlichen Charakter entlarvt, der | |
Sieg von Syriza und die Politik der griechischen Regierung sowie der | |
Vormarsch von Podemos beginnen jedoch eine Strategie abzuzeichnen. Für uns | |
ist es offensichtlich, dass ein Wahlsieg nicht genügt, und auch Alexis | |
Tsipras hat dies nie verschleiert. Es braucht die Eröffnung eines | |
politischen Prozesses, und dazu muss ein neues soziales Kräfteverhältnis in | |
Europa entstehen und sich strukturieren. | |
Lenin hat einmal in etwa gesagt, es gebe Situationen, wo man Raum opfern | |
müsse, um Zeit zu gewinnen. In Anwendung dieses Prinzips auf die | |
Vereinbarungen vom Freitag vergangener Woche (ohne Gewähr, wie immer in der | |
Politik) riskieren wir, die folgende Wette einzugehen: Die griechische | |
Regierung hat tatsächlich „nachgegeben“, aber dies nur, um Zeit und Raum zu | |
gewinnen. Das heißt, um der neu entstandenen Chance in Europa zu erlauben, | |
bis zu den nächsten Terminen (darunter die Wahlen in Spanien) | |
durchzuhalten, bis es auch den Vertretern der neuen Politik gelungen ist, | |
mehr Raum zu erobern. | |
Damit dieser Prozess an Kraft gewinnt, muss er sich in den kommenden | |
Monaten auf verschiedenen Ebenen weiterentwickeln. Es braucht zur Stärkung | |
der Autonomie soziale Kämpfe und Bürgerinitiativen, neue Verhaltensweisen | |
und eine andere Geisteshaltung der Bevölkerungen, Aktionen der Regierungen | |
und der zivilen Gegenmacht. Auch wenn wir anerkennen, dass es von | |
entscheidender Bedeutung ist, was Syriza derzeit unternimmt und was Podemos | |
auf institutioneller Ebene zu tun beabsichtigt, müssen wir auch deren | |
Grenzen betonen. | |
## Es geht darum, die Gewalt der Austerität zu senken | |
In einem bemerkenswerten Artikel [1][im Londoner] [2][Guardian] zeigt | |
Minister Varoufakis, dass er sich dessen ebenfalls völlig bewusst ist. Was | |
eine Regierung heute tun kann, schreibt er, ist grundsätzlich nichts | |
anderes, als zu versuchen, „den europäischen Kapitalismus vor seinem Hang | |
zur Selbstzerstörung zu retten“, der eine Bedrohung für die Bevölkerung | |
darstellt und dem Faschismus die Tür öffnet. Es geht darum, die Gewalt der | |
Austerität und der Krise zu senken, um der Bewahrung und der Kooperation | |
Raum zu geben, damit das Leben der Arbeiter – um mit den alten Worten von | |
Hobbes zu sprechen – weniger „einsam, elend, gewaltsam und kurz“ ist. Nic… | |
um mehr oder weniger geht es. | |
Befassen wir uns noch weiter mit der Äußerung von Varoufakis. Die | |
Überwindung des Kapitalismus ist definitionsgemäß außer Griffweite einer | |
Regierung, sei es in Griechenland oder anderswo. Abgesehen von der | |
dringenden Rettung des europäischen Kapitalismus vor der Katastrophe, die | |
auch uns treffen würde, zeichnen sich als Perspektive anhaltende soziale | |
und politische Bewegungen ab, die sich nicht auf einen institutionellen | |
Rahmen beschränken können. Genau auf diesem „anderen Kontinent“ muss ab | |
sofort die kollektive Kraft entstehen, von der die Fortschritte der | |
nächsten Monate und Jahre abhängen. Und das Terrain, auf dem diese Kraft | |
zum Ausdruck kommt, kann nur Europa selber sein, im Hinblick auf einen | |
grundlegenden Bruch mit seinem gegenwärtigen historischen Verlauf. | |
Darum sind Mobilisierungen wie die Bewegung Blockupy aus Anlass der | |
Einweihung des neuen EZB-Sitzes am 18. März in Frankfurt so wichtig. Das | |
ist eine Gelegenheit, der Stimme des europäischen Volkes zur Unterstützung | |
der griechischen Regierung Gehör zu verschaffen. Abgesehen von der | |
unbedingt notwendigen Verurteilung des Finanzkapitals und der | |
postdemokratischen Macht (Habermas) ist dies auch eine Bewährungsprobe für | |
das Erstarken der alternativen Kräfte, ohne die alles Handeln von | |
Regierungen und Parteien gegen die Austerität zur Ohnmacht verurteilt wäre. | |
Aus dem Französischen übersetzt von Rudolf Balmer | |
1 Mar 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.theguardian.com/news/2015/feb/18/yanis-varoufakis-how-i-became-a… | |
[2] http://www.theguardian.com/news/2015/feb/18/yanis-varoufakis-how-i-became-a… | |
## AUTOREN | |
Sandro Mezzadra | |
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