# taz.de -- Bremen wählt neue Bürgerschaft: Anfang vom Ende der Demokratie | |
> Wer Bremen künftig regieren wird, steht bereits vor dem Ende der Wahl so | |
> gut wie fest. Spannend wird vor allem eins: die Wahlbeteiligung. | |
Bild: Vorbei: der themenarme Wahlkampf in Bremen. | |
BREMEN taz | Am Sonntag wird Bremen eine neue Bürgerschaft wählen, so heißt | |
dort der Landtag. Ganz Bremen? Nein! Etwa die Hälfte der Wahlberechtigten | |
wird zu Hause bleiben. Und das darf man nicht mit einer Geste des | |
Widerstands oder der überlegenen intellektuellen Enthaltsamkeit | |
verwechseln. Eher ist das Resignation. | |
Bremen, dessen rot-grüne Regierung vor der zweiten Wiederwahl steht, | |
Bremen, das wohl sozialdemokratischste der deutschen Bundesländer, ist | |
zugleich das mit der größten sozialen Spaltung. Hier leben, im Verhältnis | |
zur Gesamteinwohnerzahl, die meisten Millionäre. Und die meisten Armen oder | |
von Armut bedrohten Menschen. Die Reichen gehen wählen. Die Armen – die | |
haben es aufgegeben. Nicht alle. Aber die Mehrheit. | |
Das ist natürlich nur eine Voraussage. Aber die Prognose beruht auf dem, | |
was sich in den vergangenen Jahren als großer Trend abgezeichnet hat. Wie | |
sich das weiter entwickelt, ist, was auch über das Kleinstland hinaus von | |
Bedeutung ist an der Wahl am Sonntag. Der Kölner Soziologe Armin Schäfer | |
hat diesen Trend in seiner Habilschrift treffend als den „Verlust | |
politischer Gleichheit“ bestimmt – mit vielen Belegen aus der Hansestadt. | |
Die hat er aufgegriffen, weil Bremens Landeswahlleiter Jürgen Wayand und | |
sein Team sie so akkurat erfassen und vorbildlich aufdröseln. Und wohl | |
auch, weil das Bild dort so deutlich ist – bei der Europawahl, bei der | |
Bundestagswahl sowie noch einen Tacken schärfer vor vier Jahren: An der | |
letzten Landtagswahl 2011 nahmen im Land Bremen nur 57 Prozent der | |
Berechtigten teil. In keinem der 16 Ortsteile der Stadt Bremen, in denen | |
ein Viertel oder mehr BewohnerInnen Hartz-IV-EmpfängerInnen sind, erreichte | |
die Beteiligung diesen Mittelwert. Nur in dreien von ihnen lag sie über 50 | |
Prozent. | |
In Tenever, Hochhaussiedlung mit 37,3 Prozent SozialhilfeempfängerInnen, | |
gaben gerade mal 38,2 der Wahlberechtigten ihre Stimmen ab. Im noch ärmeren | |
früheren Hafenarbeiter-Viertel Gröpelingen, in dem der heutige | |
Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) aufwuchs, waren es immerhin noch 43,1 | |
Prozent. Dort, wo die Reichen leben, in Borgfeld, Oberneuland und | |
Schwachhausen, sind überall zwei Drittel mindestens hingegangen. | |
## Rot-Grün ist so gut wie sicher | |
Ein themenarmer Wahlkampf geht zu Ende. Plakatiert wurden | |
Lebensgefühl-Poster und SpitzenkandidatInnen – vor allem in der City und in | |
den gut situierten Stadtteilen. Im Raum steht zwar die finanzpolitische | |
Frage, wie sich Bremen von seinen rund 21 Milliarden Euro Schulden trennen | |
soll. Doch da herrscht Konsens, dass es aus eigener Kraft nicht geht. | |
Auch diesmal dürfte wieder Rot-Grün die Mehrheit der insgesamt 83 Mandate | |
in der Bremer Bürgerschaft abbekommen. In den letzten Umfragen lag die SPD | |
bei 37, die CDU bei 22 und die Grünen bei 16 Prozent. Die Linkspartei kann | |
mit 8 Prozent rechnen, FDP und AfD kämpfen um der Fünfprozenthürde. Aber ob | |
es die AfD schafft und ob der FDP dank ihres parteilosen Covergirls, einer | |
30-jährigen Flachbeutelfabrik-Erbin, die Rückkehr aus dem Schattenreich | |
gelingt: so what? | |
Wichtiger ist, ob es wenigstens gelingt, die Zahl der ungültigen Stimmen in | |
den armen Ortsteilen zu senken – oder ob das neue, komplexere und mit viel | |
Idealismus vorangebrachte Wahlrecht das Abhängen der Bildungs- und | |
Finanzschwachen zwangsläufig beschleunigt. Denn die Explosion der | |
ungültigen Stimmen 2011 ist diesem neuen Wahlrecht zu verdanken. | |
Der Entwurf stammt vom Verein „Mehr Demokratie“, und tatsächlich, man hat | |
dadurch ja mehr Möglichkeiten der Mitbestimmung. Man kann seine Meinung | |
viel differenzierter ausdrücken als zuvor. Aber das überfordert viele: „Im | |
langjährigen Mittel schwankte die Zahl der Ungültigwähler bei | |
Bürgerschaftswahlen in der Regel um 1 Prozent“, erinnert der Bremer | |
Politikwissenschaftler Lothar Probst in einer im April veröffentlichten | |
Vorwahlanalyse. 2011 war ihr Anteil auf 3,3 Prozent hochgeschnellt. | |
Und „in Stimmbezirken mit sozialen Problemlagen und eher bildungsferner | |
Bevölkerungsschicht lag die Zahl der Ungültigwähler mehr als das Dreifache | |
höher als in gutbürgerlichen Stadtteilen“. Ein bisschen wirkt es wie eine | |
versehentliche Wiederbelebung des preußischen Zensuswahlrechts. | |
Auch die Bundestagswahl war „in Bremen, gemessen an der Sozialstruktur der | |
Bevölkerung, nicht repräsentativ“, hat die Bertelsmann-Stiftung in ihrer | |
Studie „Prekäre Wahlen“ festgestellt. Nichtrepräsentative Wahlen in einer | |
repräsentativen Demokratie: Das ist nicht Vollendung der Oligarchie. Aber | |
ein großer Schritt auf sie zu. In Bremen lässt sich beobachten, ob es | |
möglich ist, die Entwicklung zu bremsen. Wenigstens zu bremsen. | |
10 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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