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# taz.de -- „Querdenker“-Protest in Leipzig: Triumph der Coronaleugner:innen
> Zehntausende Demonstrierende widersetzen sich in Leipzig der Polizei und
> den Infektionsschutzmaßnahmen – auch mit Gewalt.
Bild: Gegen die Corona-Maßnahmen, gegen die Polizei: Demonstrierende am Samsta…
Leipzig taz | Keine Angst vor dem Virus, das ist der Konsens bei den
Demonstrierenden in Leipzig am Samstag. [1][Zehntausende sogenannte
Querdenker] haben sich auf dem zentralen Augustusplatz eingefunden,
angereist aus Städten in ganz Deutschland. Zahlreiche weitere sind über das
Stadtgebiet verteilt. Etwa 45.000 Menschen will die Forschungsgruppe
„Durchgezählt“ gezählt haben. Die Polizei spricht von mindestens 20.000 �…
Tendenz „eher mehr“.
Die Menschen stehen nah beieinander. Eine Mund-Nasen-Bedeckung trägt hier
kaum jemand, und wenn, dann mit Aufdrucken wie „Nötigung“ oder „Maulkorb…
Manche tragen Schilder, rufen nach „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“,
fordern „Merkel muss weg“. An einem Stand werden Anstecker und Flyer
verteilt, eine kleine Bibel liegt neben einer Broschüre, die ein „Ende der
Corona-Diktatur“ fordert. Aus mobilen Lautsprechern dröhnt Xavier Naidoo.
Am Leipziger Hauptbahnhof kommen am Mittag immer mehr Menschen an, die dem
Aufruf der Querdenken-Demonstration folgen. Darunter sind junge Menschen in
Outdoor-Klamotten, Hippies in Pluderhosen und mit Trommeln,
Esoteriker:innen, Reichsbürger, Familien, Senior:innen. Viele beziehen sich
auf Verschwörungsideologien. Nur schwer lässt sich kategorisieren, was das
hier für eine Melange ist, die eine Gemeinsamkeit haben: Die Verharmlosung
oder gar Leugnung der Coronapandemie.
## Reihenweise Neonazi-Kader angereist
Eindeutiger sind die anderen: [2][Bekannte Neonazis aus ganz Deutschland],
die eigens für die Demonstration angereist sind. Hooligangruppen mit
breiten Nacken und Vollvermummung, sportliche Jungnazis, verurteilte
Rechtsextremisten, Führungskader der AfD, NPD, Die Rechte, der Dritte Weg.
Hunderte Rechtsextreme mischen sich unter die Versammlung.
Später am Abend werden sie Journalisten zu Boden prügeln, die Polizei mit
Leuchtgeschossen abschießen, Flaschen werfen. Die Polizei wird überfordert
sein, die Aggression nicht eindämmen können. Die ursprünglich aufgelöste
Versammlung wird Polizeiketten durchbrechen. Zehntausende Menschen werden
ohne Genehmigung über den Leipziger Innenstadtring laufen, sich in der
Tradition der Friedensgebete von 1989/90 sehen, die Revolution
proklamieren. Die Polizei wird dabei einfach zuschauen.
Fragt man den Soziologen und Rechtsextremismusexperten David Begrich, was
an diesem Tag in Leipzig passiert ist, spricht er von einer „Katastrophe
mit Ansage“. Es sei absehbar gewesen, wer zu dieser Veranstaltung kommt und
was dort passieren wird. „Dass man davor zurückgewichen ist, war ein
politischer Fehler.“
## Oberverwaltungsgericht gestattete Demo in der Innenstadt
Zuvor hatte die Stadt Leipzig die Anmeldung der Demonstration in der
Innenstadt nicht genehmigt, kurzfristig wurde sie auf die Neue Messe weit
außerhalb der Stadt verlegt. Die Veranstalter klagten – und bekamen Recht.
Am Samstagmorgen entschied das Oberverwaltungsgericht Bautzen, dass die
Querdenken-Kundgebung mit 16.000 Personen in der Innenstadt stattfinden
darf.
Roxane Müller ist eine derjenigen, die extra aus Nordrhein-Westfalen
angereist ist. Müller, 30 Jahre, mit blonden Dreadlocks und Piercings im
Gesicht, verteilt rosa und weiße Luftballons gegen Spenden für die
Querdenken-Organisatoren. Sie ist mit ihrem Sohn und ihrer Mutter gekommen.
„Ich demonstriere gegen die Maßnahmen und die Maskenpflicht – vor allem f�…
die Kinder“, sagt sie. An ihrem Pullover mit Querdenken-Aufdruck hängt ein
Button mit dem Gesicht der Widerstandskämpferin Sophie Scholl. „Der Hass
ist sehr extrem“, sagt Müller. Ihr Sohn, ebenfalls blonde Dreads, höchstens
10 Jahre alt, nickt heftig. Müller sagt, er kriege von der Maske ständig
Nasenbluten und Ausschlag. „Die Kinder werden traumatisiert.“ Es ist eine
häufige Erzählung an diesem Tag: Man demonstriere für die Kinder, die unter
der Maskenpflicht leiden würden.
Unter den Demonstrierenden sind viele Frauen und Familien, Menschen mit
Regenbogenflagge und esoterisch anmutender Kleidung. Manche tragen ein
Pro-Trump-Shirt, andere schwenken eine Reichsflagge. Der ehemalige
NPD-Vorsitzende Udo Voigt posiert mit einem Transparent „Deutschland gegen
den Corona-Wahnsinn“. Auf Schildern werden die „Mainstream-Medien“ mit
„Holocaustkomplizen“ verglichen und „Kindermasken“ mit „Kinderschänd…
Eine Frau mit einem Blumenstrauß in der Hand schreit Polizisten an:
„Schützt euch und eure Kinder.“ Auf der Bühne leitet eine Rednerin eine
gemeinsame „spirituelle Übung“ an. Eine andere Rednerin hingegen zitiert
Hermann Göring und ruft „Hooligans, Gangs und Clans“ zur Unterstützung auf
den Straßen auf.
90 Prozent ohne Maske
Schon am Nachmittag wird die Versammlung nach einem „juristischen
Tauziehen“, wie Polizeisprecher Olaf Hoppe sagt, für beendet erklärt. 90
Prozent der Teilnehmenden hätten keine Maske getragen, auch gegen andere
Auflagen wurde verstoßen. Viele zweifeln die medizinischen Fakten an. Ein
Mann aus Thüringen sagt, es gebe nichts, was diese Maßnahmen begründe. Die
Leute bräuchten einfach ein gesundes Immunsystem. Eigentlich habe er in die
grüne Partei eintreten wollen– „aber bei der Politik ist mir einfach nur
schlecht geworden“.
Auf der Bühne redet nun Christoph Wonneberger. Früher koordinierte er die
Friedensgebete in der Nikolaikirche, die zum politischen Umbruch 1989/90
beitrugen. Für viele Menschen der Wende-Generation war der lutherische
Pfarrer ein Vorbild. Er sagt, es gebe keine Covidkrise, sondern eine
„Kapitalismusinsolvenzverschleppung“. Die Masse jubelt, Wonneberger heizt
sie an: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer.“
Soziologe Begrich sagt, es sei ein „tragischer politischer Fehler“, dass
jemand wie Wonneberger hier rede. „Diese Leute sagen, sie seien die Erben
der friedlichen Revolution.“ Die „Politik der Bilder“ von Menschen, die v…
dem ehemaligen Stasi-Gefängnis Kerzen abstellen, würde funktionieren.
Begrich warnt davor, dass man die Wirkungsmacht der rechten Narrative
jedoch nicht unterschätzen dürfe. An diesem Tag habe sich genau die
Mischszene gezeigt, die es schon bei vorigen Demonstrationen gab:
Reichsbürger, Esoteriker, Hippies. Und die Nazi-Hooligans, „die am Ende des
Tages das Zepter übernommen haben“.
Auf die Anordnungen der Polizei, den Versammlungsort zu verlassen,
reagieren die Demonstrieren nicht – sie wollen laufen. So wie damals,
1989/90, als in Leipzig die sogenannte „Friedliche Revolution“ begann.
Viele Demonstrierende heute vergleichen das politische Klima mit dem
DDR-Regime, nicht selten sprechen sie davon, dass die Coronapandemie eine
Erfindung der Eliten sei – eine „Plandemie“. Ein verschwörungsideologisc…
Narrativ, das viele hier ungefiltert übernehmen.
Keine Ahnung, wo die Polizei ist
Auch Corinna Wulle benutzt dieses Wort. Die 56-jährige Apothekerin im
Wollpulli und ihr Mann sind aus Freiburg zu der Demonstration gereist. Sie
trägt eine Kerze in der Hand. Fragt man sie, was mit den Hunderttausenden
Menschen sei, die weltweit an der Pandemie sterben, sagt Wulle, das hänge
mit Grippeimpfung und 5G-Strahlung zusammen. Ihr Mann ist Lehrer – beide
sagen, sie hätten keine Angst vor dem Virus. Man müsse für seine
Grundrechte einstehen – und für die Kinder auf die Straße. „Wenn die
Rechten hier mitlaufen, kann man das eben nicht ändern.“
Nur eine Stunde zuvor haben Hooligans und Neonazis am Hauptbahnhof
Polizeikräfte angegriffen und Absperrungen rausgerissen, viele
Querdenken-Demonstrierenden sind der aggressiven Stimmung gefolgt. Die
Polizei ist zu diesem Zeitpunkt völlig unterbesetzt, wirkt handlungsunfähig
gegenüber dem immer aggressiven auftretenden Mob. Ein Polizist sagt: „Wenn
das hier hochgeht, können wir auch nichts machen. Wir sind zu wenige.“
Zur gleichen Zeit gibt es eine Blockade von Gegendemonstrant:innen auf dem
Innenstadtring. Sie ist eingekesselt, zahlreiche Polizeikräfte bewachen
hier ein paar Hundert Gegendemonstrant:innen. Am selben Abend noch werden
Räumpanzer und Wasserwerfer durch das linksalternative Viertel Connewitz
rollen, weil hier Barrikaden errichtet und angezündet werden.
Am Hauptbahnhof jedoch fehlt von Wasserwerfern oder Räumpanzern jede Spur.
So können die aggressiven Querdenken-Demonstrierenden durch die
Polizeikette brechen, skandierend und schnellen Schrittes auf den
Innenstadtring laufen. Sie haben bekommen, was sie wollten. Die
Demonstration zieht knapp drei Stunden nach offizieller Auflösung der
Versammlung durch die Polizei ohne Genehmigung über die großen Straßen.
Vertreter:innen der Ordnungsbehörde stehen am Rand und schauen ratlos zu.
„Wir haben keine Ahnung, warum die laufen dürfen“, sagt einer. „Und keine
Ahnung, wo die Polizei ist.“
Leipzigs Polizeipräsident Torsten Schultze erklärt später, die Polizei habe
drei Ziele verfolgt: Einen friedlichen Verlauf aller Veranstaltungen
sicherstellen, Gewalttaten verhindern und den Infektionsschutz durchsetzen.
Die ersten beiden Ziele habe man „weitestgehend erreicht“.
Die Linksfraktion fordert dagegen eine Sondersitzung im Innenausschuss,
welche die Geschehnisse aufarbeiten soll. Von Seiten der mitregierenden
Grünen heißt es, Innenminister Roland Wöllers (CDU) „Nichthandeln als
Innenminister“ sei „nicht mehr tragbar“. Die Geschehnisse müssten
Konsequenzen haben.
Für die Querdenken-Bewegung war dieser Tag ein Triumph. Am Ende des Abends
haben die Demonstrierenden ihre Runde drehen können und sammeln sich wieder
am Ausgangspunkt. Aus einem Lautsprecher läuft „We are the Champions“ von
Queen. Eine einsame Reichsflagge schwingt im Takt dazu. Mitten auf dem
Leipziger Augustusplatz.
8 Nov 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Sarah Ulrich
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