| # taz.de -- Postmigrantische Perspektiven: Erinnern als politische Praxis | |
| > In dem Sammelband „Erinnern Stören“ beschreiben Autor:innen migrantische | |
| > und jüdische Erfahrungen mit dem Mauerfall. Für viele eine Zäsur. | |
| Bild: Der 27. August 1992: brennender Pkw beim zentralen Asylbewerberheim in Ro… | |
| Am Anfang steht der Kalte Krieg. Zumindest als „Geburtsstunde des | |
| Postmigrantischen“, wie es die Herausgeber:innen von „Erinnern Stören“ | |
| zu Beginn ihres Sammelbands schreiben. Das Postmigrantische bildet den | |
| zentralen Ausgangspunkt für die Beiträge zu migrantischen und jüdischen | |
| Perspektiven auf den Mauerfall. Es stehe, so die Autor:innen, für die | |
| selbstbewusste Aneignung der Geschichte aus einer nicht-identitären | |
| kanakischen Position. | |
| Es geht um jene Perspektiven, die nach 1989/90 nicht gehört werden wollen, | |
| die aus dem gesamtdeutschen Einheitsdiskurs verdrängt wurden, wie sie zu | |
| unbequem für den Revolutionstaumel der Wende-Erzählung waren. Der von Lydia | |
| Lierke und Massimo Perinelli herausgegebene Band stellt also ein | |
| Gegengewicht zu dominanten Erzählungen über 30 Jahre deutsch-deutsche | |
| Geschichte dar, geschrieben aus der Perspektive derjenigen, die eine andere | |
| Geschichte entweder selbst erfahren haben oder um deren Anerkennung | |
| kämpfen. | |
| Es geht darum, sichtbar zu machen, dass der Mauerfall für migrantisches und | |
| jüdisches Leben eine gewaltvolle Zäsur bedeutet und für viele Menschen | |
| statt Einigung vor allem Ausschluss, Segregation und Diskriminierung mit | |
| sich brachte, und darum, die bürgerlich und weiß-dominierte Erinnerung zu | |
| stören. | |
| Die Herausgeber:innen haben es sich zur Aufgabe gemacht, Erinnern als | |
| politische Praxis zu begreifen und marginalisierte Perspektiven durch | |
| aktives Erzählen dieser Wendegeschichten wieder sichtbar zu machen. Der | |
| Band versammelt erinnerungspolitische Beiträge, die an rassistische | |
| Brandanschläge und Morde an Vertragsarbeiter:innen erinnern, Erzählungen | |
| von Kämpfen um Asyl und Bürgerrechte ehemaliger Gastarbeiter:innen und | |
| Geflüchteter, Texte über jüdisches Leben in Ost und West sowie über das | |
| Leben von Sinti und Roma. | |
| Ergänzt werden diese erfahrungszentrierten Beiträge zur | |
| Geschichtsschreibung mit Analysen historischer Kontinuitäten, die zu | |
| rechtem Terror und Ausgrenzung migrantischer Gruppen führten. So erinnern | |
| Autor:innen wie Ceren Türkmen oder Dostluk Sineması an Brandanschläge in | |
| Duisburg und Hoyerswerda und stellen damit in den Fokus, dass der nationale | |
| Taumel der Wende eben auch eine Zunahme rechtsextremer Aktivitäten | |
| bedeutete. | |
| Erinnerungen von und an ehemalige Vertragsarbeiter:innen wie der Beitrag | |
| der „Initiative 12. August“ oder der Text von Paulino Miguel rufen ins | |
| Gedächtnis, dass es auch in der DDR Rassismus gab. Auch eine | |
| Klassenperspektive wird in den Blick genommen und so auch eine | |
| intersektionale Betrachtung der Erfahrungen mit dem Umbruch zugelassen – | |
| beispielsweise im Gespräch mit Naika Foroutan zur „Migrantisierung der | |
| Ostdeutschen.“ | |
| ## Aneignung des Wendediskurses | |
| Stark ist der Sammelband, weil es um mehr geht als um eine Opfererzählung: | |
| Es geht um die Aneignung der Wendediskurse aus migrantischer und jüdischer | |
| Perspektive und damit um einen Akt der Selbstermächtigung. | |
| Um „postmigrantische Selbstbehauptung“, wie es in einem Beitrag von | |
| Perinelli heißt, und darum, „dass die Geschichte der marginalisierten | |
| Stimmen im Prozess der deutschen Vereinigung noch nicht geschrieben wurden | |
| und immer noch Geschichten erzählt werden müssen“ – in all ihren | |
| Widersprüchen und ihrer Komplexität für migrantische und jüdische Stimmen. | |
| „Erinnern Stören“ ist damit nicht nur hochpolitisch, sondern auch höchst | |
| relevant. | |
| 11 Nov 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Sarah Ulrich | |
| ## TAGS | |
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