# taz.de -- Zwischenbilanz Filmfestival Cannes: Die Willkür eines Papstes | |
> Wes Anderson geht auf Tuchfühlung mit Aliens, Marco Bellocchio stellt | |
> sich in den Dienst der Geschichte. Viele Künstler:innen zeigen Routine. | |
Bild: Fromme Inszenierung in Marco Bellocchios Historienfilm „Rapito“ | |
Die Hysterie des Festivalbetriebs ist fast vorüber, da lässt sich etwas | |
Zwischenbilanz ziehen, wie die Chancen in diesem Jahrgang von Cannes wohl | |
stehen. Mit [1][Jonathan Glazers pechschwarzem Holocaustfilm „The Zone of | |
Interest“ und Nuri Bilge Ceylans poetischem „About Dry Grasses]“ gab es | |
schon früh zwei herausragende Filme im Wettbewerb, ebenso [2][Justine | |
Triets psychologisch genaues Justizdrama „Anatomie d’une chute]“. | |
Der US-amerikanische Regisseur [3][Todd Haynes, der zuletzt mit so | |
unterschiedlichen Arbeiten wie dem Dokumentarfilm „The Velvet Underground“] | |
und dem [4][Drama „Vergiftete Wahrheit“ über den Teflon-Chemieskandal] auf | |
sich aufmerksam machte, hat mit „May December“ eine erfreulich verwirrende | |
Komödie beigesteuert, die auf einnehmende Weise fremdartig ist. | |
Julianne Moore spielt darin eine Frau, Gracie, die einen deutlich jüngeren | |
Mann, Joe, geheiratet hat und die, weil ihr späterer Ehepartner zu Beginn | |
der Beziehung noch minderjährig war, vorübergehend als Sexualstraftäterin | |
im Gefängnis saß. Jetzt soll die Geschichte verfilmt werden, und die | |
Schauspielerin Elizabeth Berry (Natalie Portman) übernimmt den Part von | |
Gracie. Zur Vorbereitung auf ihre Rolle verbringt Elizabeth Zeit mit der | |
Familie. Man kommt sich mitunter näher. | |
Todd Haynes inszeniert die seltsame Geschichte in milchigem Licht, mit | |
schwülstig-dramatischer elektronischer Musik unterlegt, alle Figuren sind | |
überzeichnet, immer wieder werden Julianne Moore und Natalie Portman so ins | |
Bild gesetzt, dass sie einander mehr und mehr gleichen. So ganz versteht | |
man nicht, was Haynes eigentlich erzählt, doch er tut es so charmant, dass | |
man sich nicht seiner Zeit beraubt fühlt. | |
Leider ist das bei anderen Filmen schon der Fall. Bisheriger Tiefpunkt des | |
Wettbewerbs war das Notfallmedizineractiondebakel „Black Flies“ von | |
Jean-Stéphane Sauvaire mit Sean Penn und Tye Sheridan in den Hauptrollen | |
beim blutigen Einsatz als Sanitäter. Nach einem durchschnittlichen Beitrag | |
von Aki Kaurismäki („Fallen Leaves“) und der platten Satire „Club Zero�… | |
Jessica Hausner hat auch der US-amerikanische Regisseur Wes Anderson mit | |
„Asteroid City“ mehr Routine denn ansteckende Leidenschaft in | |
statisch-bewegte Bilder gebannt. | |
## Stars in Mannschaftsstärke | |
„Asteroid City“ ist ein Film über ein Theaterstück gleichen Namens, mit | |
der fiktiven Stadt des Titels als Ort der Handlung. Wie zuvor in „The | |
French Dispatch“ hat Anderson fast zwei Fußballmannschaften voll von Stars | |
zusammengebracht, die buchstäblich in der Wüste stranden, trockene | |
Bemerkungen über verstorbene Familienmitglieder machen und die Schönheit | |
des Kraters bewundern, dem der Ort seinen Namen verdankt. Auch Aliens | |
interessieren sich für diese urzeitliche Formation. | |
Anderson nutzt die bei ihm üblichen tableauartigen Szenerien, in denen | |
seine Schauspieler mehr stehen als agieren und als witzig konzipierte Dinge | |
von sich geben. Doch der forcierte Wille zum Absurden läuft bei ihm häufig | |
auf leere Gesten hinaus. Dass sogar ernste Dinge wie Trauer zur Sprache | |
kommen, geht darüber etwas unter. Nicht, weil man es nicht bemerken würde, | |
sondern weil es wie deplatziert im Raum stehen bleibt. | |
Ein klareres Anliegen verfolgt der italienische Regisseur Marco Bellocchio | |
in seinem ebenfalls im Wettbewerb gezeigten Historienfilm „Rapito“. Darin | |
erzählt er die Geschichte von Edgardo Mortara, der 1858 als sechsjähriges | |
Kind von der päpstlichen Polizei aus seinem Elternhaus entführt wurde. Ein | |
Hausmädchen hatte ihn notgetauft, weshalb er nicht mehr von seiner | |
jüdischen Familie erzogen werden durfte. | |
## Der Kampf der Juden blieb erfolglos | |
Bellocchio erzählt diesen haarsträubenden Fall, der seinerzeit | |
international Proteste hervorrief und in dem die Regierungen Frankreichs, | |
Großbritanniens und Österreichs zu intervenieren versuchten, gewohnt | |
klassisch, zeigt die Not der Eltern Momolo Mortara (Fausto Russo Alesi) und | |
seiner Frau Marianna Padovani (Barbara Ronchi), die verzweifelt versuchen, | |
ihr Kind zurückzubekommen. | |
Doch da Juden nach Kirchenstrafrecht keine getauften Kinder erziehen | |
durften, blieb ihr Kampf erfolglos. Von der päpstlichen Einübung Edgardos | |
ins Christentum schneidet Bellocchio regelmäßig zur Familie Mortara beim | |
Tischgebet, führt hie lateinische und da hebräische Formeln parallel, um | |
die Willkür dieser Praxis unter Pius IX. hervorzuheben. Man mag das | |
konventionell finden, man könnte auch sagen: Bellocchio stellt sich in den | |
Dienst der Geschichte. | |
25 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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