| # taz.de -- Filmfestspiele Cannes 2023: Der Toilettenmann | |
| > Wim Wenders zeigt bei den Filmfestspielen viel Herz für | |
| > Designertoiletten. "Perfect Days" erzählt er mit stiller Alltagspoesie | |
| > und schrulligem Humor. | |
| Bild: In „Perfect Days“ taucht die Nichte von Toilettenmann Hirayama plötz… | |
| Am Samstagabend werden in Cannes die Gewinner des Wettbewerbs verkündet, | |
| und es gibt gute Gründe, sich überraschen zu lassen, welche Kandidaten von | |
| der Jury mit [1][dem schwedischen Regisseur Ruben Östlund] als Vorsitzenden | |
| einer Palme für würdig befunden werden. Denn die Konkurrenz ist stark, | |
| selbst wenn die Ansichten darüber, welche Filme die besten sind, in der | |
| Kritik mitunter stark auseinandergehen. | |
| Eine Überraschung kurz vor Schluss war jedenfalls der Beitrag von Wim | |
| Wenders, der mit „Perfect Days“ einen Film ins Rennen geschickt hat, der | |
| die jüngeren architektonischen Errungenschaften Tokios feiert. Wobei es | |
| keine großen Bauten sind, denen sich Wenders widmet, sondern eher kleine. | |
| Sein Protagonist, Hirayama, gegeben von Kōji Yakusho, arbeitet bei [2][The | |
| Tokyo Toilet] und putzt in der Stadt die Klos. Nicht irgendwelche | |
| Bedürfnisanstalten wohlgemerkt, sondern von namhaften Architekten wie Tadao | |
| Ando entworfene Einrichtungen im Bezirk Shibuya, die mit | |
| unterschiedlichsten Formen, Farben und Materialien begeistern. | |
| Schmutzig sehen die Räume eigentlich nie aus, allenfalls findet sich ein | |
| wenig Papier- und Plastikmüll, den Hirayama, dessen Routinen der Film von | |
| Tag zu Tag folgt, geduldig in Plastikbeutel steckt, bevor er mit einer | |
| Gründlichkeit, die an Hingabe denken lässt, alle Oberflächen sauber- und | |
| trockenwischt. | |
| Hirayama ist ein wortkarger Typ, mit seinem Kollegen wechselt er fast kein | |
| Wort. Wenn er nach Feierabend die üblichen Runden durch seinen | |
| Stammbuchladen, sein Stammlokal und seine Stammkneipe dreht, begrüßen ihn | |
| die Inhaber wie einen alten Freund, was er mit einem zufriedenen Lächeln | |
| quittiert. | |
| ## Stille Alltagspoesie | |
| Viel ist es anscheinend nicht, was Wenders mit diesem Film will. Doch das, | |
| was er mit dieser stillen Alltagspoesie und seinem so zugewandten wie | |
| schrulligen Humor in zwei Stunden erzielt, ist durchaus gelungen. Ein | |
| Vorzug von „Perfect Days“ ist, dass er auf Drama weitgehend verzichtet. Er | |
| deutet es lediglich knapp an, wenn unerwartet Hirayamas Nichte auftaucht, | |
| die von zu Hause davongelaufen ist, und ein Konflikt in der Familie | |
| umrissen wird, der seine Hauptfigur als komplexen Charakter mit Geschichte | |
| erkennen lässt, ohne zu verraten, was genau die Hintergründe sind. | |
| Ein weiterer Vorzug des Films ist die Musik. Wenders pflegt einerseits alte | |
| Vorlieben, darunter Van Morrison, Patti Smith oder Lou Reed, dessen Song | |
| „Perfect Day“ der Film seinen Titel verdankt, andererseits zählt zu seinen | |
| Darstellern die japanische Starsängerin Sayuri Ishikawa, die in einer der | |
| anrührendsten Szenen des Films den Folksong „House of the Rising Sun“ | |
| ergreifend schlicht auf Japanisch darbietet. | |
| Kann man vermutlich alles ebenso gut doof finden, doch wo Wenders es mit | |
| seiner weltoffenen Haltung früher gern übertrieben hat, hält er in diesem | |
| Fall vorbildlich an sich. Und die Toiletten allein schon wären eine Reise | |
| nach Tokio wert. | |
| 26 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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