# taz.de -- Marco Bellocchio über seinen neuen Film: „Es macht mich immer no… | |
> „Die Bologna-Entführung“ schildert den wahren Fall eines vom Papst | |
> geraubten jüdischen Jungen. Regisseur Bellocchio erzählt, wie die Kirche | |
> ihn geprägt hat. | |
Bild: Kurzes Wiedersehen: Edgardo Mortara (Enea Sala) und seine Mutter Marianna… | |
Im italienischen Kino gehört Marco Bellocchio, der vergangene Woche seinen | |
84. Geburtstag feierte, ohne Frage zu den Altmeistern. Bereits acht Mal war | |
der Regisseur im Wettbewerb der [1][Filmfestspiele von Cannes vertrete]n. | |
So auch dieses Jahr mit seinem Film „Die Bologna-Entführung – Geraubt im | |
Namen des Papstes“, der eine wahre Geschichte aus dem Jahr 1858 erzählt. | |
An der Croisette, wo wir Bellocchio zum Interview trafen, ging das | |
Historiendrama leer aus, wurde aber im Juni zum großen Abräumer beim von | |
italienischen Filmjournalist*innen vergebenen Nastro d’Argento. | |
taz: Herr Bellocchio, wenn man als Regisseur – wie Sie nun mit [2][„Die | |
Bologna-Entführung“ – eine historische Geschichte verfilmt], erzählt man | |
dann immer auch etwas über die Gegenwart? | |
Marco Bellocchio: Wenn mich eine Geschichte, die in der Vergangenheit | |
spielt, so sehr fasziniert, dass ich einen Film daraus machen will, denke | |
ich zumindest drüber nach und frage mich: Woran liegt das? Was hat mir | |
diese Story denn heute noch zu sagen? Abgesehen davon zwingen einen | |
Produzenten und Geldgeber meistens dazu, sich dazu Gedanken zu machen, denn | |
die wollen bei jedem Film wissen, was daran erzählenswert ist und wer sich | |
das angucken wird. Aber ehrlich finde ich das mit dem Bezug zur Gegenwart | |
zweitrangig. Ich will nicht überheblich klingen, aber wenn ich so bewegt | |
von einer Geschichte bin, dass ich einen ganzen Film drehen möchte, dann | |
ist das für mich als Motivation absolut ausreichend. | |
Auch Regisseure wie Steven Spielberg oder Julian Schnabel waren daran | |
interessiert, von der Entführung des jungen Edgardo Mortara zu erzählen, | |
der 1858 seiner jüdischen Familie durch Soldaten des Papstes entrissen und | |
fortan im katholischen Glauben erzogen wurde. Warum ist es Ihrer Meinung | |
nach wichtig, dass sich nun stattdessen ein Italiener dieses Stoffs | |
angenommen hat? | |
Ich weiß gar nicht, ob ich das unterschreiben würde. Dass am Ende ich den | |
Film gemacht habe, lag nicht daran, dass ich Italiener bin, sondern einfach | |
am glücklichen Timing. Hätte Spielberg sein Projekt nicht irgendwann fallen | |
lassen, hätte ich mich der Geschichte nie angenommen. Mich in Konkurrenz zu | |
einer Hollywoodproduktion zu begeben, die ein deutlich höheres Budget | |
gehabt hätte, wäre ja ziemlich unsinnig gewesen. | |
Es scheint im Film, als seien Sie fasziniert von religiösen Ritualen. Kommt | |
da auch Ihre eigene Prägung durch? | |
Heute ist es im Katholizismus nicht mehr weit her mit den Ritualen, die | |
werden ja kaum streng befolgt. Aber in meiner Kindheit und Jugend sah das | |
noch ganz anders aus. Auch das natürlich nicht vergleichbar mit der Zeit | |
und den Erlebnissen des jungen Edgardo Mortara, die ich nun im Film zeige. | |
Doch zumindest ging es vor 75 Jahren noch so streng zu, dass ich beim | |
besten Willen nicht die Chance gehabt hätte, zum Protestantismus oder | |
irgendeiner anderen Religion zu wechseln. Es gab keinen Weg, dem | |
Katholizismus zu entkommen. Gebete, Sakramente, Messen, Beerdigungen – | |
alles wurde nach strikten Regeln begangen, aus denen kein Ausbrechen | |
möglich war, denn es drohte ja immer die Verdammnis. In diesen | |
Verpflichtungen und Zwängen, die ich mir nie freiwillig ausgesucht habe, | |
liegen meine Ablehnung der Kirche und der Verlust meines Glaubens | |
verwurzelt. Und es macht mich immer noch fürchterlich wütend, dass man | |
sieben- oder achtjährigen Kindern damit droht, dass sie in der Hölle | |
brennen werden, wenn sie sich an diese Sachen nicht halten. | |
Erstaunlicherweise lassen Sie trotz dieser Wut in „Die Bologna-Entführung“ | |
sogar humorvolle Momente zu. An einer Stelle etwa hat der Papst eine Art | |
Albtraum und fürchtet, jüdische Eindringlinge im Vatikan würden ihn | |
beschneiden wollen! | |
Das basiert auf einer Karikatur, die damals zu dem Fall in einer | |
US-amerikanischen Zeitung erschienen ist. Der Papst ist im Film von dieser | |
Vision so nachhaltig verschreckt, dass er sich danach direkt noch ein | |
zweites Mal taufen lässt. Einfach, um wirklich abgesichert zu sein! Diese | |
Szene bringt mich immer noch zum Lachen, auch wenn ich sie mindestens | |
zweihundertmal gesehen habe. Ebenso, wenn Edgardo in seiner | |
überschwänglichen Begeisterung für den Papst eben diesen zu Fall bringt. | |
Solche Szenen sind mein Versuch, dem Realismus nicht zu sehr verhaftet zu | |
bleiben. Da lebe ich meine künstlerische Freiheit aus. | |
Fast im Gegensatz dazu ist die Musik, die im Film zum Einsatz kommt, | |
geradezu klassisch, mit epischen, imposanten Orchesterklängen … | |
Es ist ja nun einmal auch eine sehr dramatische Geschichte von großer | |
Tragik. Und trotz aller Freiheiten, die ich mir herausgenommen habe, auch | |
eine wahre. Deswegen wünschte ich mir vom Komponisten Fabio Massimo | |
Capogrosso möglichst melodramatische Filmmusik. Wobei wir in diesem Fall | |
auch sehr viele schon existierende Kompositionen verwendet haben. Um genau | |
zu sein: Werke von Schostakowitsch, Rachmaninow und Avo Pärt. Das entsprach | |
nicht nur meiner künstlerischen Vision, sondern hatte auch den Vorteil, | |
dass ich bereits im Schneideraum für viele Szenen die passende Musik hatte. | |
Das ist sonst, wenn der komplette Score erst für den fertigen Film | |
komponiert wird, ja meist nicht der Fall, was ich immer sehr bedauere. | |
Sie betonten jetzt mehrfach Ihre Freiheiten als Geschichtenerzähler. War es | |
Ihnen nicht wichtig, mit „Die Bologna-Entführung“ historisch korrekt zu | |
sein? Gerade weil dieser Fall in der jüdischen Geschichte ja auch | |
stellvertretend für eine fürchterliche wie lange Tradition erzwungener | |
Taufen steht? | |
Ich bin ganz ehrlich: Mir ging es bei diesem Film nur um diese spezifische | |
Geschichte, nicht um Ideologie und auch nicht um explizite Papstkritik. Es | |
war nicht die Absicht, all das Unrecht zu repräsentieren, was den Jüdinnen | |
und Juden durch die katholische Kirche widerfahren ist. Selbst wenn all das | |
natürlich implizit in dieser Geschichte mitschwingt. Dass Mortara aus | |
seiner eigenen Familie entführt wurde, war ja übrigens keine willkürliche | |
Tat, sondern erfolgte seitens des Papstes nach einer zwingenden Logik. Denn | |
Edgardo war als Baby von seinem christlichen Kindermädchen getauft worden – | |
und wer getauft war, musste nun einmal als Christ aufwachsen. Viel | |
spannender als die Motivation des Papstes und seiner Leute ist also die | |
Frage, warum Mortara zu Lebzeiten dann später nie rebelliert hat oder zu | |
seiner Familie zurückgekehrt ist. Und nicht nur das: Er nahm später, als er | |
zum Priester geweiht wurde, sogar den Namen Pius an. [3][Wie der Papst, der | |
ihn hatte entführen lassen!] | |
Haben Sie und Ihre Ko-Autorin Susanna Nicchiarelli diesbezüglich viel | |
recherchiert? | |
Wir haben ganz allgemein sehr gründliche Recherchen betrieben und uns nicht | |
ausschließlich auf das Buch „Der Fall Mortara“ von Daniele Scalise | |
verlassen, das die Hauptgrundlage für den Film darstellt. Wir haben auch | |
gelesen, was David Kertzer in „Die Entführung des Edgardo Mortara“ und | |
andere jüdische Autoren und Historiker über diese Geschichte geschrieben | |
haben. Und gewisse Szenen im Film, etwa die Wiederbegegnung mit der Mutter, | |
haben wir Mortaras Autobiografie entnommen. | |
War Italiens jüdische Gemeinde in irgendeiner Weise in die Arbeit am Film | |
involviert? | |
Selbstverständlich, allen voran Elèna Mortara, Mortaras Urgroßnichte, mit | |
der wir ein sehr langes Gespräch geführt haben. Und wir haben auch | |
Nachforschungen angestellt zu anderen Zwangstaufen, die damals ja keine | |
Seltenheit waren. Später am Set hatten wir immer einige jüdische Berater | |
mit im Team, um wirklich sicherzustellen, dass wir alle Rituale, Bräuche, | |
Gebete und ähnliches korrekt darstellen und inszenieren. Denn zumindest | |
das waren Elemente des Films, die ich nicht künstlerisch frei, sondern so | |
real wie möglich darstellen wollte. | |
14 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Patrick Heidmann | |
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