# taz.de -- Serie über Politiker-Entführung: Kein Gelato zum Nachtisch | |
> Marco Bellocchio erzählt in der Serie „Und draußen die Nacht“ von der | |
> Entführung des Politikers Aldo Moro durch kommunistische Aktivisten. | |
Bild: Planungssitzung der Roten Brigaden, Waffenarsenal inklusive | |
Drei Männer stehen in einem Krankenhausflur eng beieinander. „Wer weiß, | |
dass er lebt und freigelassen wurde?“, flüstert der erste. „Niemand. Nicht | |
mal die Familie“, raunt der zweite. „Es darf auch niemand erfahren, dass er | |
hier ist. Eins nach dem anderen“, sagt wieder der erste. „[1][Auch nicht | |
der Papst?]“, will der dritte wissen. „Nein. Auch der erst mal nicht“, | |
beharrt der erste. | |
Es ist Mai 1978. Die drei Männer sind der Reihe nach: der damalige | |
italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti, Innenminister Francesco | |
Cossig und Benigno Zaccagnini, Generalsekretär der [2][Democrazia | |
Christiana]. Auch Aldo Moro, den sie gemeinsam im Krankenhaus besuchen, der | |
also lebt und freigelassen wurde, ist Mitglied der Partei. In der realen | |
Welt teilte Aldo Moro bekanntlich das Schicksal des weniger als ein Jahr | |
zuvor von der RAF entführten und ermordeten Hanns Martin Schleyer. Handelt | |
es sich hier etwa um einen weiteren Fall der in Mode gekommenen filmischen | |
Alternativgeschichtserzählung? In „Once Upon a Time in Hollywood“ hatte | |
[3][Quentin Tarantino] zuletzt Sharon Tate ihren Killern entkommen lassen. | |
Die Parallelen sind fürwahr beachtlich: Auch im Falle Moros überfielen | |
Linksterroristen (von der Brigate Rosse) seine Autoeskorte und erschossen | |
alle Personenschützer. Auch hier meißelte die Regierung die Staatsraison in | |
Stein und verhandelte nicht mit den Entführern. Nach Wochen des Hoffens und | |
Verzweifelns wurde die Leiche des Entführten schließlich im Kofferraum | |
eines Autos gefunden. | |
Und wie der Deutsche Herbst ist auch der Moro-Mord wiederholt filmisch | |
adaptiert worden. Nur lässt das bisherige Schaffen des „Teufel im | |
Leib“-Regisseurs Marco Bellocchio eigentlich darauf schließen, dass er zwar | |
einerseits einen eher künstlerischen Zugang zu seinem Gegenstand als ein | |
Heinrich Breloer wählen, dass er andererseits aber sehr viel subtiler | |
vorgehen würde als das Duo Bernd Eichinger/Uli Edel. | |
## Hassfigur für rechte wie für linke Spalter | |
Genau so ist es gekommen. Der Sechsteiler „Und draußen die Nacht“ stiehlt | |
deutschen Produktionen à la „Todesspiel“ und „Der Baader Meinhof Komplex… | |
in Sachen Kunstfertigkeit und Subtilität und überhaupt spielend die Show. | |
Und natürlich hat Bellochio nicht einfach eine der Verschwörungstheorien | |
ins Bild gesetzt, wie sie sich in großer Zahl um Moro ranken. Denn er war | |
der maßgebliche Kopf hinter der als „Historischer Kompromiss“ bekannten | |
Annäherung zwischen Konservativen und Kommunisten in Italien – und damit | |
eine Hassfigur für rechte wie für linke Spalter. | |
Die rätselhafte Auftaktszene wird tatsächlich erst gegen Ende der sechsten | |
Folge aufgelöst. Dazwischen entfaltet Bellocchio, unterstützt von Stars des | |
italienischen Kinos wie Margherita Buy und Toni Servillo, seine | |
meisterliche Erzählkunst, die den Zuschauer die Tage und Wochen nach Moros | |
Entführung immer wieder aus neuer Perspektive erleben lässt. | |
Der von Papst Paul VI. (Servillo, Folge 3), der im Vatikan einen Berg aus | |
Geldbündeln aufhäufen lässt, um seinen langjährigen Freund Moro damit | |
freizukaufen. Der von der Terroristin Adriana Faranda (Folge 4), die zu | |
zweifeln beginnt, als sie im Fernsehen die Särge der ermordeten | |
Personenschützer sieht. Der von Moros tiefreligiöser Ehefrau Eleonora (Buy, | |
Folge 5), die ihre Kinder ermahnt, ihre Feinde zu lieben: die Entführer zu | |
verstehen und ihnen zu verzeihen. Oder der von Innenminister Cossiga (Folge | |
2), dessen Berater schon nach der Verhängung des Kriegszustandes und der | |
Wiedereinführung der Todesstrafe lechzen. | |
Es ist eine der beeindruckendsten Sequenzen der Serie, wenn die Kamera | |
langsam über die Gesichter der um einen Konferenztisch von Putinschen | |
Ausmaßen versammelten Uniform- und Anzugträger gleitet, während Cossiga sie | |
aus dem Off einsortiert, all diese: „Ex-Faschisten oder Noch-Faschisten, | |
alte Haudegen. Und sie sollen Aldos Leben retten, dabei hassen sie ihn. | |
Aber ich habe nur sie.“ | |
Als kälteste, diabolischste Figur von allen erscheint – nach Paolo | |
Sorrentinos „Il Divo“ – einmal mehr der siebenmalige italienische | |
Ministerpräsident Giulio Andreotti. Seine Selbstgeißelung während der | |
Moro-Entführung besteht darin, auf das Speiseeis zum Nachtisch zu | |
verzichten. | |
14 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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