| # taz.de -- Linke über Italiens neue Regierung: Gegen den hinterhältigen Popu… | |
| > Mario Neri ist 96 und war Partisan. Mattia Santori ist 35 und einer der | |
| > Köpfe der Sardinenbewegung. Was sie über Italiens neue Regierung denken. | |
| Bild: Sardinenbewegung: Vor drei Jahren protestierten Tausende in ganz Italien … | |
| Bologna taz | Der Widerstand von Mario Neri beginnt im Jahr 1944. Er lebt | |
| mit seiner Familie in einem Vorort von Bologna, ist gerade volljährig | |
| geworden und hat vor Kurzem die Einberufung ins Militär erhalten. Ein | |
| Widerstandskämpfer aus seinem Ort versammelt die einberufenen Jugendlichen | |
| um sich und erklärt ihnen: Ihr steht am Scheideweg – Einberufung oder | |
| Resistenza, bewaffneter Widerstand. | |
| Der junge Neri schließt sich dem Widerstand gegen die italienischen | |
| Faschisten und die deutsche Besetzung an, der alte Neri, der davon erzählt, | |
| schüttelt den Kopf über seinen eigenen Leichtsinn. „Was waren denn für uns | |
| die Partisanen? Wir waren ungebildet, ohne jegliche Kultur. Wir haben von | |
| klein auf gearbeitet.“ Von da an lebt er versteckt in den Feldern, nimmt | |
| einen Decknamen an, schmuggelt Waffen. Er gerät in deutsche | |
| Kriegsgefangenschaft, sieht viele seiner Mitstreiter sterben, kommt ins | |
| Gefängnis – aber er überlebt. | |
| Der Widerstand von Mattia Santori beginnt im Herbst 2019, mit einem Klick | |
| auf Facebook. Der Bologneser lädt zusammen mit drei Freunden zu einem | |
| Flashmob mit dem Namen „6.000 Sardinen gegen Salvini“ ein und organisiert | |
| damit eine Demonstration gegen den Wahlkampfauftritt des | |
| rechtspopulistischen Anführers der Lega, Matteo Salvini, in Bologna. | |
| Die Idee ist einfach: Am Abend der Lega-Kundgebung will Santori die | |
| zentrale Piazza der Stadt mit Menschen füllen, die sich gegen Salvinis | |
| Hassrede, Hetze gegen Geflüchtete und Ausgrenzung stellen. Knapp 6.000 | |
| Teilnehmer:innen sind für Salvinis Veranstaltung angekündigt, deshalb | |
| lautet das Ziel: 6.000 Menschen gegen Salvini auf der Piazza, eng gedrängt | |
| wie Sardinen. | |
| ## Homestory mit Mussolini-Statue | |
| Es kommen über 10.000. Sie halten selbstgebastelte bunte Fische in die | |
| Luft. Darunter auch Elly Schlein, damals gerade im Wahlkampf für eine | |
| progressive linke Bewegung, [1][heute die frisch gewählte Vorsitzende der | |
| Partito Democratico]. In den folgenden Monaten breitet sich die | |
| Sardinenbewegung im ganzen Land aus, in zig Städten finden friedliche | |
| Demonstrationen statt. | |
| Seitdem sind mehr als drei Jahre vergangen. Salvinis Lega ist gemeinsam mit | |
| der postfaschistischen Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni und der Forza | |
| Italia von Silvio Berlusconi an der Macht. Kaum ist die Regierung gebildet, | |
| sorgen einige Personalien für Aufregung – besonders die Ernennung von | |
| Ignazio La Russa zum Senatspräsidenten. | |
| 2018 präsentierte der Parteifreund von Ministerpräsidentin Meloni in einer | |
| Homestory seine Sammlung an Memorabilia des italienischen Faschismus | |
| inklusive Mussolini-Statue. Kurz vor den Parlamentswahlen sagte er über die | |
| Italiener:innen: „Wir sind alle Kinder des Duce“. Und Ende Dezember | |
| erinnerte La Russa in einem Instagram-Post an den Jahrestag der Gründung | |
| des Movimento Sociale Italiano (MSI), der Nachfolgepartei von Mussolinis | |
| faschistischer Partei. | |
| Meloni verteidigt ihn: Sie war selbst Mitglied des MSI, bis sich die Partei | |
| 1995 auflöste. Die grün-weiß-rote Flamme, die einst im MSI-Logo prangte, | |
| findet sich nun im Signet der Fratelli d’Italia. | |
| ## Das Anti-Rave-Gesetz | |
| Auch Melonis Partner Salvini und Berlusconi bringen ein Erbe mit. Beide | |
| haben Skandale hinter sich, gegen beide laufen Prozesse. Doch Mattia | |
| Santori ist sich sicher: „Salvini spielt überhaupt keine Rolle mehr. Meloni | |
| ist sehr gut darin, sowohl ihn als auch Berlusconi im Zaum zu halten, zwei | |
| sehr sperrige Persönlichkeiten.“ | |
| Nach der Personaldebatte folgt gleich der nächste Eklat. Anlass ist das | |
| sogenannte Rave-Dekret, mit dem die neue Regierung Ende Oktober | |
| „gefährliche Versammlungen“ von mehr als 50 Personen verbietet. Der | |
| Auslöser ist ein illegaler Rave mit etwa tausend Teilnehmer:innen in | |
| Modena, doch das Dekret ist sehr weit gefasst: Jegliche Art von Versammlung | |
| von mehr als 50 Personen in öffentlichen oder privaten Räumen kann davon | |
| betroffen sein, „wenn sich daraus eine Gefahr für die öffentliche Ordnung | |
| oder die öffentliche Sicherheit oder Gesundheit ergeben kann“. | |
| Es drohen Geldstrafen von bis zu 10.000 Euro, Haftstrafen von bis zu sechs | |
| Jahren. Die Zeitung La Repubblica nennt das Dekret „freiheitsvernichtend“, | |
| andere nennen es faschistisch. Daraufhin ist die Regierung gezwungen, die | |
| Formulierung des Dekrets anzupassen, um es schließlich Ende Dezember in ein | |
| Anti-Rave-Gesetz umzuwandeln. | |
| Nach dem anfänglichen Aufruhr wird es ruhiger um Melonis Regierung. Ein | |
| intelligenter Populismus zeichne sie aus, wird ihr manchmal attestiert. | |
| Wenn Giorgia Meloni mit [2][Fragen zum Faschismus] konfrontiert wird, nennt | |
| sie die italienischen Rassengesetze von 1938 den „Tiefpunkt der | |
| italienischen Geschichte“, vermeidet es aber, den Faschismus in seiner | |
| Gesamtheit zu verurteilen – und betont, dass sie über das jetzige | |
| Jahrtausend sprechen will. | |
| ## Sie nennen es Freiheitskämpfe | |
| Sie sagt, die Themen, für die sich ihre Partei einsetze, seien | |
| Freiheitskämpfe: „Wahlfreiheit, Unternehmensfreiheit, Redefreiheit, die | |
| Freiheit zu arbeiten.“ | |
| „Heute sprechen auch sie von Freiheit“, kommentiert der 96jährige Mario | |
| Neri betrübt. Mattia Santori nennt den Populismus Melonis „hinterhältig“ | |
| und führt als Beispiel den Umgang mit Geflüchteten an, die von privaten | |
| Rettungsschiffen aus dem Meer gerettet werden: Noch 2020 ließ Salvini | |
| Italiens Häfen für diese Schiffe schließen und wütete gegen die deutsche | |
| Kapitänin Carola Rackete, als sie sich dem Verbot widersetzte. [3][Meloni | |
| fährt eine andere Strategie.] Sie erlaubt den privaten Rettungsschiffen, | |
| anzulegen – aber in weit entfernten Häfen im Norden Italiens. So verlieren | |
| die Seenotretter viel Zeit und Geld, aber Meloni kann den Vorwurf der | |
| Unmenschlichkeit kontern. | |
| Lauter wird die Kritik an der Flüchtlingspolitik Ende Februar, als bei | |
| einem Bootsunglück vor der Küste Kalabriens 74 Flüchtlinge sterben. Als | |
| Reaktion kündigt Meloni lange Haftstrafen für Schlepper an. | |
| Der Partisan Neri hat nur wenige Worte für die gegenwärtige Regierung | |
| übrig. „Sagen wir so, ich bin nicht gerade enthusiastisch“, sagt er kurz | |
| angebunden. Aber auch: „Das muss gehen, wir sind ja nun in der Tat an sie | |
| gebunden.“ | |
| ## Und die Opposition? | |
| Mit Widerstand gegen diese Regierung tut man sich in Italien schwer. Die | |
| Opposition ist zu sehr mit einem Bruderkampf beschäftigt, um geeint zu | |
| handeln. „Die Oppositionsgruppen kämpfen alle um den zweiten Platz hinter | |
| den Rechten, aber niemand kämpft um den ersten Platz.“ Santori schüttelt | |
| den Kopf. „Bereits im Oktober, noch bevor die Regierung Meloni ihr Amt | |
| angetreten hatte, gab es Demonstrationen gegen die Regierung.“ Er lächelt | |
| skeptisch. „Wartet doch wenigstens, bis sie einen Fehler machen.“ | |
| Was die politische Gesinnung der Regierung angeht, wählt Santori seine | |
| Worte sehr umsichtig. „Ich würde diese Regierung nicht als neofaschistisch | |
| bezeichnen, denn Worte ändern sich im Laufe der Zeit, und jede Epoche | |
| braucht ihre eigenen Begriffe. Diese Regierung ist ein Kind der | |
| demokratischen Krise, die wir erleben. Sie ist nicht repräsentativ für das | |
| Land, weil jeder Dritte nicht zur Wahl gegangen ist.“ | |
| Als „sehr rechts“ bezeichnet er sie dennoch und betont, die Sardinen würden | |
| sie auf keinen Fall unterstützen. „Die Sardinen sind erklärtermaßen | |
| antifaschistisch“, heißt es im Manifest der Bewegung. Besuche der | |
| Erinnerungsorte des Zweiten Weltkriegs und der 25. April, der an die | |
| Befreiung Italiens im Jahr 1945 erinnert, sind bedeutend für sie. | |
| Vergleiche der Bewegung mit dem Widerstand der Partisan:innen hat | |
| Santori öfters gehört. „Unsere Gemeinsamkeit ist der Moment, in dem die | |
| Menschen denken: jetzt oder nie! In den 1940ern nahmen sie ein Gewehr in | |
| die Hand, weil sie keine Alternative hatten. 2019 gingen die Menschen auf | |
| die Straßen, weil sie nicht mehr daheim auf dem Sofa sitzen wollten.“ | |
| ## Die Resistenza | |
| Kurz nach dem Entstehen der Sardinenbewegung nimmt sich die Associazione | |
| Nazionale Partigiani d’Italia, die 1944 gegründete Vereinigung der | |
| Partisanen, ihrer an. Carla Nespolo, die inzwischen verstorbene | |
| Präsidentin, und Gianfranco Pagliarulo, der jetzige Präsident des Vereins, | |
| seien für die Sardinen „wie eine Mutter und ein Vater“, sagt Santori. | |
| Zwischen ihm und Neri liegt mehr als ein halbes Jahrhundert, aber manchmal | |
| sprechen sie wie aus einem Mund – zum Beispiel, wenn es um die Bedeutung | |
| der Resistenza geht. Dann schweigt Mario Neri kurz, lehnt sich zurück. | |
| Seine Stimme ist plötzlich ganz klar, die Zerbrechlichkeit des alten Mannes | |
| ist aus ihr verschwunden. „Resistenza bedeutet Befreiung. Meine Resistenza | |
| war eine Angelegenheit der allerhöchsten auch nur vorstellbaren Werte.“ | |
| Mattia Santori legt bei derselben Frage für einen Augenblick die | |
| Zurückhaltung ab, die ihn das ganze Gespräch über begleitet hat. Er lacht | |
| und seine Augen leuchten auf. „Resistenza ist für mich ein heiliges Wort. | |
| Es steht für die allerhöchste Geste, die es im Leben geben kann, nämlich | |
| die Freiheit und die Rechte der anderen über das eigene Leben zu stellen.“ | |
| „Resistenza“, fügt Neri zum Abschluss leise hinzu, „das ist die Ukraine. | |
| Auch sie sind Partisanen.“ | |
| 14 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Judith Eisinger | |
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