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# taz.de -- Papst Pius IX. erfand die Kirche neu: Dogma und Tristesse
> Eine neue Biografie zeigt, wie Papst Pius IX. im 19. Jahrhundert dem
> Katholizismus eine neue Tradition erfand. Die Kirche prägt er bis heute.
Bild: Die unbefleckte Empfängnis Mariens machte er zum Dogma: Pius IX. Fotogra…
Er habe ein „Herz aus Stein“, kein Mensch nehme „es mit der Wahrheit
weniger genau“, sagen Zeitzeugen von Rang. „Manche Teilnehmer an Audienzen
berichten sogar davon, seine Reden hätten irr gewirkt. Auf andere Besucher
machte er den Eindruck von Größenwahn. Einige hielten ihn schlicht für
verrückt“, schreibt Hubert Wolf über den Gegenstand seiner neuen
biografischen Forschung.
Was klingt, als reihe sich die Veröffentlichung des Kirchenhistorikers
nahtlos in die ausufernde Deutungsliteratur zum gegenwärtigen
US-Präsidenten, sind Charakterzüge, die einer gewichtigeren weltpolitischen
Größe zukommen. Eine schwache Persönlichkeit mit Papas Netzwerk und
Allmachtfantasien an der Spitze einer sich auf unabänderliche Wahrheiten
berufenden Institution, die es – im Gegensatz zu Donald Trump – aber
schaffte, tatsächlich den Machtapparat komplett zu kontrollieren und das
System, in dem sie aufstieg, zu ihren Gunsten umzubauen.
Die unlautere Parallele zieht Wolf freilich nicht. „Der Unfehlbare“ heißt
die biografische Studie zu Papst Pius IX., jenem Heiligen Vater, der das
Bild, das innerhalb wie außerhalb der römisch-katholischen Kirche zum
modernen Papsttum vorherrscht, entscheidend prägte: Ein Charismatiker, der
sich den Bedrängnissen der Moderne nicht unterwirft: gebeugt von der Last
der Welt, aber nicht gebrochen. Statt um den barocken Bombast fülliger
Prälaten des 17. und 18. Jahrhunderts geht es hier also um die Tristesse
der Neoromanik, um Marienerscheinungen als „kollektive Dramen“, um
hagiografische Kitschikonografie: Um eine Kirche im Umbruch, am Beginn des
Zeitalters der Massenmedien.
Der künftige Papst wird 1792 in die Zeit der Französischen Revolution
geboren, die auch die weit verzweigten ideologischen Fronten innerhalb des
Katholizismus verhärtet, zwischen Liberalen und Zelanti, Eiferern, die um
das kirchliche Verhältnis zur sich verändernden Welt ringen.
## Das Papsttum als absolute Herrschaft
Auch als Gianmaria Mastai Ferreti im Jahr 1846 den Papstthron besteigt,
sind diese Kämpfe noch nicht ausgefochten – sie werden sein beinahe 32
Jahre währendes Pontifikat prägen. Unter Pius schwindet der
politisch-weltliche Einfluss der Kirche, der Kirchenstaat löst sich in
einem vereinigten Italien auf und im Erstarken des Konzepts
republikanischer Nationalstaaten.
Gleichzeitig setzt sich das Papsttum als absolute, zentralistische
Herrschaft über die Gesamtheit der Katholik*innen der Welt durch, regieren
die Päpste nach dem Papst, der das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit
durchsetzte, noch in jede Landgemeinde hinein. Am Ende steht der
Kulturkampf Bismarcks gegen die als ausländischen Agent*innen verstandenen
Katholik*innen im Deutschen Reich.
Auch auf theologischer Ebene spaltet Pius’ Vatikanisches Konzil im Jahr
1871 die Gemeinschaft der Gläubigen: „Man hat eine neue Kirche gemacht“,
zitiert Wolf den Theologen Ignaz von Döllinger, Vordenker der
Altkatholischen Bewegung, die sich den zentralistischen Reformen verweigert
und schließlich von Rom abspaltet.
Als „Invented Tradition“ bezeichnet die Kulturwissenschaft Traditionen, die
aus Gründen der Identitätsfindung einer Gruppe als solche erfunden werden.
Geprägt von Eric Hobsbawm, versammelt der heute umstrittene Begriff –
welche Tradition könne schon ‚authentisch‘ sein? – Phänomene vom Yoga b…
zum Schottenrock. Der Katholizismus ist voll von solchen Momenten,
behauptet Wolf, sei es Tridentinischer Ritus oder Unbefleckte Empfängnis.
## „Eine Kalte Dusche für alle“
Das Argumentieren mit neu geschaffenen Traditionen zeichnet er als
Strategie der Umgestaltung der Kirche durch Pius und sein Umfeld. So
zitiert er einen Parteigänger der umstrittenen päpstlichen Unfehlbarkeit
mit den bezeichnenden Worten: „Nicht die Historiker […] sind zu befragen,
sondern das lebende Orakel der Kirche“ – es müsse eben das „Dogma die
Geschichte besiegen“. Und Pius selbst sagt: „Ich bin die Tradition!“
„Die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“ heißt das Buch auch
folgerichtig im Untertitel. Glücklicherweise verzichtet der
Münsteraner Kirchenhistoriker diesmal auf den vulgär-aufklärerischen
Habitus vieler seiner Werke, die im Untertitel gerne mit „Unterdrückten
Traditionen“ und „Geheimnissen“ argumentieren.
Der Verlag lässt es sich aber nicht nehmen, von einer „kalten Dusche für
alle, die im Papst den Repräsentanten uralter Traditionen sehen“, zu
sprechen – so als sei der Katholizismus noch immer der Endgegner statt ein
sich selbst durch Schweigen verurteilendes Auslaufmodell, dem seit Jahren
die Mitglieder in Scharen davonlaufen: das Karstadt der Christenheit.
Dieses Buch spricht kritisch und parteiisch, aber ohne den Gestus einer
Abrechnung.
Statt kalter Dusche ist es eine nicht immer voraussetzungsfreie, aber doch
gut lesbare Studie zu den Grundlagen der heutigen katholischen Lebens- und
Glaubensrealität, in der die Verflechtungen von Glauben und Politik
sichtbar werden, die Zeitlichkeit überzeitlicher Dogmen hervortritt. In
seinem rasenden Antimodernismus ist Pius im Endeffekt eine überaus moderne
Gestalt. Auch darum liest sich „Der Unfehlbare“ mithin als packender
Politthriller – und ist so auch für Atheist*innen eine lohnende Lektüre.
23 Sep 2020
## AUTOREN
Steffen Greiner
## TAGS
Papst
Katholische Kirche
Moderne
Ostern
Papst Franziskus
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