# taz.de -- Zeitzeuge erinnert sich: „Am 1. April 1933 verlor ich meinen Glau… | |
> Vor 90 Jahren inszenierten die Nazis ihren ersten „Juden-Boykott“. Walter | |
> Frankenstein erlebte diesen Tag als Neunjähriger. | |
Bild: Vor dem Textilgeschäft Degginger am Kurfürstendamm 224, SA-Männer habe… | |
Erinnerungen protokolliert von Klaus Hillenbrand | |
Ich bin 1924 in Flatow in der Provinz Grenzmark geboren. Der Ort heißt | |
heute Zlotów und liegt in Polen. Damals hatte die Kleinstadt etwa 7.000 | |
Einwohner, darunter eine Menge jüdischer Familien. Meine Eltern besaßen am | |
Hauptmarkt ein Geschäft, so was wie einen Tante-Emma-Laden. Da gab es | |
alles. An Markttagen kamen die Bauern aus der Umgebung nach Flatow. Sie | |
verkauften auf dem Markt ihre Produkte, etwa Eier, Butter, Pilze und | |
Hühner. Wir hatten auch eine Gastwirtschaft. | |
An den ersten April 1933, den Tag des Boykotts gegen die Juden, erinnere | |
ich mich noch sehr genau. Ich stand am Fenster unseres Hauses, als unten | |
auf der Straße eine Gruppe Männer vorbeiging. Einige waren in SA-Uniformen | |
gekleidet, andere waren in Zivil. Einer der Uniformierten zog plötzlich | |
eine Pistole und schoss zu uns ins Haus hinein. Es wurde niemand getroffen | |
oder verletzt. Aber ich stand da am Fenster und dachte für mich: Wenn | |
dieser Mann nicht innerhalb der nächsten 50 Meter tot umfällt, dann kann | |
ich nicht mehr an den lieben Gott glauben. Er fiel natürlich nicht um. | |
Ich habe damals meinen Glauben verloren. Unser Schaufenster wurde | |
beschmiert: „Kauft nicht bei Juden!“. Die stellten auch zwei SA-Leute vor | |
die Tür, die eventuelle Kunden abwiesen. Diese Männer waren selber nicht | |
aus Flatow. | |
Unser Haus reichte vom Hauptmarkt bis zur parallelen Gasse dahinter. Dort | |
befand sich die Einfahrt zum Speicher. Wir hatten auch Ställe, damit die | |
Bauern, wenn sie in die Stadt kamen, dort ihre Pferde unterbringen konnten. | |
Ein Angestellter von uns gab den Pferden Heu und Wasser. Die Männer kehrten | |
in der Kneipe bei uns ein und tranken Bier und Schnaps, die Frauen gingen | |
auf den Markt und verkauften ihre Produkte. Später kamen sie zu uns und | |
kauften ein, was sie benötigten, Salz, Zucker, solche Sachen. Wir wohnten | |
im selben Haus. Im Erdgeschoss gab es vier kleine Zimmer und oben zwei. Es | |
wurde mit Kachelöfen geheizt. Wir besaßen auch schon ein Badezimmer mit | |
einem Warmwasserofen. | |
Ich hatte anfangs eine sehr schöne Kindheit in Flatow. Es hat unter uns | |
Kindern bis 1933 überhaupt keine Rolle gespielt, ob jemand jüdisch oder | |
christlich war. Niemand hat danach gefragt, welcher Religionsgemeinschaft | |
jemand angehörte. Ich hatte Freunde, die waren die Kinder eines | |
christlichen Rechtsanwalts. Ich war auch mit der Tochter von Familie | |
Abraham befreundet, die keine Juden waren. | |
Wir waren zu fünft in der Familie, Mutter, Vater und drei Kinder. Mein | |
Vater Max hat 1905 geheiratet, glaube ich. 1910 wurde ein erster Sohn | |
geboren, Manfred, und vier Jahre später Martin. 1917 starb die erste Frau | |
meines Vaters an einer Blutvergiftung. Durch Vermittlung einer Schwester | |
seiner ersten Frau lernte er meine Mutter kennen, Martha Fein, die in | |
Braunsberg in Ostpreußen bei ihren Eltern lebte. Sie heirateten 1923. Ein | |
Jahr später kam ich auf die Welt. | |
Im Winter 1928/29 ist mein Vater gestorben. Ich bekam dann einen Vormund, | |
Onkel Selmar, der als Arzt in Berlin lebte. Meine Mutter führte den Laden | |
und die Kneipe alleine weiter. Ich bin nicht regelmäßig in die Synagoge | |
gegangen. Mutter war eine gläubige Frau. Zu Hause war alles koscher. Man | |
unterschied zwischen Milch- und Fleischprodukten. Wir hatten doppeltes | |
Geschirr daheim und auch zwei Herde. Die Mutter hat sich an die religiösen | |
Regeln gehalten. In die Synagoge ist sie aber auch nicht so oft gegangen. | |
Sie hatte ja auch keine Zeit, sie musste ja im Geschäft sein. | |
Damals, am 1. April 1933, sind die SA-Männer dann irgendwann abgezogen. Die | |
Mutter war traurig und erschrocken. Danach kamen viel weniger Kunden ins | |
Geschäft. Meine Mutter besaß ein Buch, in das sie schrieb, wer nicht genug | |
Geld zum Bezahlen dabeihatte. Da standen also die Schuldner mit Namen und | |
Summen drin. Doch nach dem 1. April hat niemand mehr seine Schulden bezahlt | |
und meine Mutter konnte nichts dagegen unternehmen. Dafür hatten wir mehr | |
jüdische Kunden. Es ging natürlich schlecht, aber es ging so einigermaßen. | |
Wir beschäftigten auch nur noch jüdisches Personal. Es waren nur noch zwei | |
oder drei Personen statt vorher fünf oder sechs. | |
Nach der Machtübernahme der Nazis haben die christlichen Eltern ihren | |
Kindern verboten, mit jüdischen Kindern zu spielen, so vermute ich. Die | |
Kleineren, so im Alter bis elf oder zwölf, gingen ins Jungvolk, danach die | |
Jungs in die Hitlerjugend und die Mädchen in den Bund Deutscher Mädel. | |
Einmal sah ich aus dem Fenster die Hitlerjugend mit Wimpeln und Trommeln | |
vorbeimarschieren. Da dachte ich, warum die das durften und ich nicht? | |
Ich ging damals in Flatow in die Volksschule. Dort gab es noch einen | |
anderen jüdischen Jungen in meiner Klasse, Heinz Bukowzker hieß der, der | |
Sohn des Glasermeisters. Das war ein ängstlicher Junge und ich musste ihn | |
beschützen. Mich hat keiner verprügelt. Ich war der Größte in der Klasse | |
und hatte keine Angst. Den kleinen Heinz, der neben mir auf der Bank saß, | |
hat man ab und zu verhauen. Einmal haben Hitlerjungen mir aus der Distanz | |
mit der Luftpistole in den Rücken geschossen. Aber in meine Nähe ist | |
niemand gekommen. | |
Ich hatte schon vorher einige jüdische Freunde gehabt, die beiden Brüder | |
Bukowzker und zwei Kinder der Familie Reich. Das war’s. Wir waren | |
ausgegrenzt. Vor 1933 wurden meine Geburtstage immer groß gefeiert, aber | |
danach waren nur meine jüdischen Freunde da. Meine Mutter hat mich | |
beschützt, aber auch meine älteren Stiefbrüder. Sie haben mir nicht viel | |
erzählt, aber ich bekam trotzdem alles mit. Unser Leben wurde mehr und mehr | |
eingeschränkt, durch Gesetze und Verordnungen. Es gab keinen Verkehr mehr | |
mit den christlichen Freunden. Man war ziemlich isoliert. | |
Vor 1933 war ich mit meinem Kindermädchen Anna Kowalski ab und zu auch in | |
die katholische Kirche gegangen, etwa zur Mitternachtsmesse an Heiligabend. | |
Sie war eine polnische Christin. Zu Hause gab es zu Weihnachten einen | |
Christbaum, aber es brannte auch der jüdische Chanukka-Leuchter. Dadurch | |
bekam ich gleich zweimal Geschenke. Nach 1933 sind die Weihnachtsfeiern bei | |
uns weggefallen. Die Feiern zu Chanukka wurden viel kleiner. | |
Mein Onkel und Vormund Selmar besuchte uns ab und zu aus Berlin. Er war im | |
Ersten Weltkrieg Oberstabsarzt in der deutschen Armee gewesen und hatte das | |
Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse erhalten. Darauf war er sehr stolz. | |
Er sagte: „Der Hitler ist ein Bandit, das ist ein Ausländer, kein | |
Deutscher. Die Nazis sind Banditen und werden bald wieder verschwinden.“ Er | |
glaubte nicht daran, dass es immer schlimmer werden würde. Ich habe das in | |
meiner kindlichen Naivität auch gehofft. Aber es wurde ja immer schlimmer. | |
Bevor 1936 in Flatow die Sommerferien begannen, hat mich der Rektor zu sich | |
bestellt. Er sagte mir, dass ich als Jude nicht mehr weiter in die Schule | |
gehen könne. Da hat mir Onkel Selmar einen Platz im jüdischen | |
Auerbach’schen Waisenhaus in Berlin verschafft. Von da an ging ich in die | |
jüdische Volksschule in der Rykestraße in Berlin. | |
Das Waisenhaus glich einer Insel in einem braunen Meer. Wir waren dort 45 | |
Jungs und 35 Mädchen. Wir waren wie Geschwister. Bis dahin hatte ich in | |
Flatow ein vereinsamtes Leben geführt. Dann kam ich nach Berlin und war | |
endlich wieder in Gesellschaft. In den ersten beiden Sommerferien bin ich | |
noch zu meiner Mutter nach Flatow gefahren. Dort wurde es immer | |
unangenehmer. Man konnte manchmal hören: „Ach, da ist ja der Judenjunge!“ | |
Ich versuchte gar nicht erst, die ehemaligen christlichen Freunde zu | |
treffen. Ich war daheim und hatte dort noch ein Fahrrad stehen. Damit bin | |
ich in den Wald und an den See gefahren. Zurückzukehren nach Berlin war wie | |
eine Befreiung. | |
Martha Frankenstein zog etwa 1938 nach Berlin. Sie wurde 1943 nach | |
Auschwitz deportiert und ermordet. Selmar Frankenstein wurde ins Ghetto | |
Theresienstadt verschleppt und starb dort 1942. Der Schulkamerad Heinz | |
Bukowzker kam 1943 in Auschwitz ums Leben. Walter Frankensteins Brüder | |
Manfred und Martin emigrierten rechtzeitig nach Palästina und überlebten. | |
1 Apr 2023 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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