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# taz.de -- Appell von Shoah-Überlebenden vor Wahl: „Gebt eure Stimme für d…
> Für Demokratie, gegen Rechtsextremismus und die AfD:
> Holocaust-Überlebende appellieren an EU-Bürger, zur Wahl zu gehen. Ihre
> Botschaft ist deutlich.
Bild: Die Holocaust-Überlebenden Ruth Winkelmann (l) und Eva Umlauf bei der PK…
Berlin taz | Offene Briefe gehen üblicherweise mindestens an Minister und
Oberbürgermeister, besser noch an den Bundeskanzler persönlich. Dieser hier
nicht. Am Dienstag stellen sich vier ältere Damen und Herren in Berlin der
Hauptstadtpresse vor. Vier weitere haben den Brief unterschrieben, macht
zusammen acht. Doch dieses Schreiben geht nicht an einen Prominenten,
sondern an mehrere Millionen Menschen, genauer, [1][an die jungen
Wählerinnen und Wähler bei der Europawahl]. Die acht älteren Herrschaften
appellieren in dem Schreiben, zur Wahl zu gehen und die Stimme einer
demokratischen Partei zu geben.
Sie alle eint eine besondere Geschichte, die selten geworden ist. Es sind
Überlebende des Holocaust, die dazu aufrufen, der AfD entgegenzutreten.
„Als die Rechten das letzte Mal an die Macht kamen, waren wir noch
Jugendliche, teilweise Kinder“, heißt es in dem Brief an die
Erstwählerinnen und Erstwähler. Die neuen Machthaber hätten damals
versprochen, das Land wieder groß zu machen und dass die Deutschen zuerst
kämen. Die Rechten seien auf demokratischem Wege an die Macht gelangt. Zu
viele hätten sie unterschätzt. „Wir konnten es damals nicht verhindern.
Aber ihr könnt es heute“, appellieren die Unterzeichner an junge Wähler in
Deutschland.
Eva Umlauf ist zu jung, um die NS-Machtübernahme 1933 hätte verhindern zu
können. Sie wurde erst 1942 geboren – in einem slowakischen Arbeitslager.
Sie erzählt: „Im Alter von zwei Jahren wurde ich nach Auschwitz
deportiert, mit dem letzten Transport am 3. November 1944. Drei Tage vorher
waren die Vergasungen eingestellt worden. Wir kamen zu spät, weil die
Lokomotive unseres Zugs kaputtgegangen war.“
Journalisten sind normalerweise keine ganz leise Meute, schon gar nicht 50
in einem Saal. Doch während die 81-Jährige Umlauf spricht, ist es still
geworden im Raum eins der Bundespressekonferenz.
## „Wollen nicht nochmal den selben Fehler machen“
Man habe den Neuankömmlingen die Haare rasiert und ihnen eine
Häftlingsnummer in die Haut tätowiert, berichtet Umlauf weiter. Die Nummer
sei im Lauf ihres Lebens immer größer geworden, weil auch sie gewachsen
ist. Ihr Vater wurde von Auschwitz nach Mauthausen weiterverschleppt und
starb in einem Nebenlager in Melk. Ihre Mutter und sie aber überlebten in
Auschwitz, befreit von der Roten Armee. Umlaufs Schwester kam dort kurz
nach der Befreiung in der zur Krankenbaracke umfunktionierten Baracke
Nummer 16 zur Welt.
Eva Umlauf will Stimmengewinne der AfD unbedingt verhindern. „Wir reden
über unsere Schicksale, damit diese Partei nicht so viele Stimmen erhält“,
sagt sie. Das tun auch Ruth Winkelmann, der aus Frankfurt zugeschaltete
Leon Weintraub und [2][Walter Frankenstein], dessen Botschaft einige Tage
zuvor in Stockholm auf Video aufgenommen wurde.
Ihre Geschichten ähneln sich nicht, doch sie alle sind Folge einer
Reichstagswahl vom 6. November 1932, bei der die NSDAP 33,1 Prozent der
Stimmen erhielt. Es war diese Wahl, die, zusammen mit willigen
Unterstützern der Nazis im rechtskonservativen Raum, den Weg zur Diktatur
eröffnete.
„Wir wollen nicht wieder eine Diktatur haben. Wir wollen nicht wieder
denselben Fehler machen“, sagt der 99-Jährige Walter Frankenstein. „Ich
hoffe, dass so viele wie möglich diese Demokratie auf ihrem Wahlzettel
bestätigen“, fordert er. Das wäre für ihn auch eine Art
Geburtstagsgeschenk. Frankenstein, der die NS-Zeit als Jude versteckt in
Berlin überlebt hat, wird Ende des Monats 100 Jahre alt.
## Hochachtung für die Überlebenden
Es mag schon sein, dass zwischen NSDAP und AfD bei dieser Pressekonferenz
etwas zu wenig differenziert wird. Aber dafür ist die Botschaft umso
deutlicher. „Frei kann man nur in einer Demokratie sein. Darum gehe ich zur
Wahl“, [3][sagt die 95-Jährige Ruth Winkelmann.] Das Mädchen mit einem
jüdischen Vater und einer christlichen Mutter galt den Nazis als
„Geltungsjüdin“, weil sie Mitglied der Jüdischen Gemeinde war. Nur mit
Glück entkam die Berlinerin ihrer Deportation. Sie überlebte den Holocaust
versteckt in einer Gartenlaube.
„Gebt eure Stimme für die Zukunft, den Frieden, die Demokratie“, sagt der
1926 geborene [4][Leon Weintraub]. Er spricht bis heute als Zeitzeuge vor
Schülerinnen und Schülern. Er nennt die AfD zwar nicht beim Namen, aber er
sagt: „Lasst die bösen Menschen nicht zur Macht kommen. Stimmt für
Demokratie, damit so etwas nie wieder vorkommt.“ Denn Leon Weintraub weiß,
wovon er spricht. Er wuchs ab 1940 im jüdischen Getto von Lodz auf und
wurde bei dessen Auflösung 1944 nach Auschwitz deportiert. „Tag und Nacht
schwarzer Rauch und der Geruch nach verbranntem Fleisch“, so erinnert er
sich an die Öfen, in denen die Menschen verbrannt wurden. Weintraub
überlebte Auschwitz und die Konzentrationslager Groß Rosen, Flossenbürg und
Natzweiler.
Nach gut einer Stunde endet die Veranstaltung mit den hochbetagten
Zeitzeugen in Berlin. Und dann geschieht im Raum eins im Haus der
Bundespressekonferenz etwas ganz Seltenes, etwas, was eigentlich der
Neutralität und Distanz von Berichterstattern widerspricht: Die
Journalisten und Journalistinnen applaudieren.
4 Jun 2024
## LINKS
[1] /Junge-Waehlerinnen-vor-der-EU-Wahl/!6011457
[2] /Zeitzeuge-erinnert-sich/!5921535
[3] /Der-Hausbesuch/!5869215
[4] /Die-letzten-Holocaust-Ueberlebenden/!5396307
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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