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# taz.de -- Verkehrswende in Städten: Die Poller-Politik
> In Leipzig sollen „Superblocks“ für weniger Autoverkehr und Platz für
> Begegnungen sorgen. Doch manche Anwohner:innen fühlen sich davon
> überfahren.
Bild: Autoblockade: Der Verkehr rollt nicht mehr, er läuft
Leipzig taz | Ariane Jedlitschka steht mitten auf der Straße zwischen
Wohnblocks aus malerischen Altbauten. Vor ihr zehn diagonal aufgereihte
Poller auf einer Kreuzung. Hinter ihr, „die umkämpftesten 60 Meter in
Leipzig“, sagt sie: das Superblock-Pilotprojekt im Osten der Stadt.
Es ist ein lauwarmer Freitag Ende April und Jedlitschka präsentiert bei
einer kleinen Konferenz den Verkehrsversuch vor Ort. Ein bronzefarbener SUV
rauscht hinter ihr um die Kurve, er drosselt sein Tempo fürs Abbiegen kaum.
Ein Radfahrer schlängelt sich durch die Poller.
Das Superblock-Projekt gibt es hier seit gut einem Jahr. Jedlitschka und
ihr Verein, „Superblocks Leipzig“, haben es angeleiert und sich mit der
Stadt zusammengetan. Der Autoverkehr, vor allem der Durchgangsverkehr durch
das Wohngebiet, soll reduziert werden. Menschen sollen aber mobil und das
Viertel zugänglich bleiben, deshalb herrscht keine vollständige
Autofreiheit.
Trotzdem gibt es dagegen in Leipzig lauten Widerstand. Eine Petition
fordert, das Projekt zu stoppen, Gewerbetreibende sorgen sich um Ladezonen
und Parkflächen, Anwohner:innen fühlen sich übergangen. Am Vorabend hat
eine deutliche Mehrheit im Stadtrat beschlossen, das Projekt schrittweise
von den 60 Metern auf das ganze Wohnquartier auszuweiten, die Menschen im
Viertel sollen sich daran beteiligen können.
## Vorbild Barcelona
Die Idee der Superblocks kommt aus Barcelona. Viel Verkehr, dichte
Besiedlung, wenig Grün, dreckige Luft, hohe Lärmbelastung: Damit kämpft die
katalanische Großstadt schon seit Jahrzehnten. Mitte der 2010er Jahre sah
sich die Stadtverwaltung gezwungen zu handeln und organisierte den
Autoverkehr in Wohnvierteln um.
Weite Teile Barcelonas bestehen aus quadratischen Häuserblocks. Für einen
Superblock, Katalanisch Superilla, werden dort drei mal drei dieser
Häuserblocks zusammengefasst. Die Hauptstraßen um den Superblock herum
werden wie vorher befahren. Innerhalb des Blocks führen Diagonalsperren an
Kreuzungen, Einbahnstraßen und Tempolimits dazu, dass Autos nicht mehr mit
voller Geschwindigkeit geradeaus durch das Wohngebiet abkürzen können.
Fußgänger:innen und Radfahrende haben Vorrang.
Zweispurige Straßen werden einspurig, auf der äußeren Spur wird Platz
gemacht für Parkbänke zum Kaffeetrinken, für Hochbeete und Bäume. Der erste
Superblock entstand 2017 im Stadtviertel Poblenou. Anfangs war der
Widerstand groß – auch hier vor allem in den Reihen der Gewerbetreibenden.
Das befürchtete Geschäftssterben blieb jedoch aus.
Nach Barcelonas Vorbild haben sich deutschlandweit Initiativen für ähnliche
Projekte gegründet. In Berlin gibt es zum Beispiel Kiezblocks, in Darmstadt
sogenannte Heinerblocks, in Wuppertal und Stuttgart setzen sich Menschen
für einen Superblock ein. Die Idee: Autoverkehr verringern, Lärm und
CO2-Emissionen in der Stadt senken, Hitze bekämpfen, Platz für Pflanzen und
Anwohner:innen schaffen. Letztlich auch: die Klimakrise angehen.
## Ziel: weniger Autos
„Ein Superblock ist die Verkehrswende im Kleinen“, sagt Hans Hagedorn. Der
Stadtplaner ist für Changing Cities aktiv – eine Organisation, die sich für
einen Verkehrswandel stark macht, der klima- und menschenfreundlich ist.
Changing Cities hat dafür 2023 Richtlinien erarbeitet, an denen sich Städte
orientieren können, wenn sie einen Superblock wollen. Hagedorn hat sie
maßgeblich mitverfasst.
In schwarzer Jacke und schwarzer Hose sitzt er auf einer Parkbank, nur ein
paar hundert Meter entfernt vom 60 Meter langen Verkehrsversuch in Leipzig.
Die Aktivist:innen um Ariane Jedlitschka haben ihn zum Netzwerken
eingeladen. „Superblocks sind zwar nicht komplett autofrei“, erklärt er,
das rechte Bein über das linke geschlagen.
Wenn Pkw aber nur noch langsam und schleifenförmig durch Wohngebiete
fahren, werde der Verkehr nicht nur verlagert. Die Menschen in der Stadt
würden nach einer Weile doch lieber ein anderes Verkehrsmittel nehmen, um
an ihr Ziel zu kommen. „Dadurch wird in absoluten Zahlen weniger Auto
gefahren.“
Das Pilotprojekt in Leipzig liegt in der Hildegardstraße, die direkt die
bekannte Eisenbahnstraße im Osten der Stadt kreuzt. Vor etwa einem Jahr
malte der Verein dort mitten auf den Asphalt drei bunte Kreise: anderthalb
Meter Radius, einer rosa, einer grün, einer gelb. Darauf landeten runde
Sitzbänke in den gleichen Farben, mit Blumenkübeln in der Mitte und einem
bunten Lampenschirm obendrüber. Spielstraßenschilder sollen die Autos
bremsen, damit Nachbar:innen zusammenkommen können. So die Idee.
## Die Kaffee auf der gelben Bank
Aber wie kommt das an? An diesem Freitag Ende April erwidert ein Mann mit
einem Fahrradanhänger die Frage mit einem nervösen Lächeln. Er wohnt in
einem der sechs Häuser, die direkt im Superblock-Pilotprojekt liegen und
schließt die Tür auf. Das Projekt, sagt er, sei „eine gute Idee, weniger
Autos ist ruhiger und sicherer für die Kinder.“
Während er seinen Anhänger die Treppe zum Haus hochzieht, erzählt er, dass
er sich auch hin und wieder auf die Bänke setze. Nur abends, da werde es
jetzt lauter, weil mehr Menschen auf den Straßenmöbeln Alkohol trinken. Er
verzieht das Gesicht. Trotzdem: Das Projekt könne man auch in anderen
Straßen machen. Der Klimawandel sei ein großes Problem. Das könne er auf
Deutsch aber nicht so gut erklären, entschuldigt er sich lächelnd und zieht
den Anhänger die letzte Stufe hoch ins Haus.
Etwas weiter trinken zwei Frauen Kaffee auf der gelben Bank. Die Farbe ist
nach einem Jahr deutlich ausgeblichen. Wie ihnen der Superblock gefällt?
Eine antwortet prompt. Sie sei Bühnen- und Kostümbildnerin, ihr Atelier
liege direkt um die Ecke. „Ich find’s scheiße!“
Die Bühnenbildnerin versichert: „Klar ist die Verkehrswende wichtig.“ Aber
sie befürchte zum einen, dass die Mieten steigen, wenn das Viertel durch
einen Superblock aufgewertet werde. Und zum anderen, dass sie ihr Material
nicht länger zum Atelier liefern könne. „Am Ende wohnen nur noch Leute
hier, die sich eine Alternative zum Auto leisten können.“ Während sie
spricht, fährt ein weiterer, weißer SUV dicht und zügig an der gelben Bank
vorbei.
## Entlastung für die Entlastungsstraße
Wie genau und warum lenkt die Stadt Leipzig hier den Verkehr? Der
Superblock-Abschnitt auf der Hildegardstraße grenzt im Norden an die
Ludwigstraße und südlich an die Eisenbahnstraße. Letztere ist eine der
Hauptverkehrsadern in Leipzigs Osten, mit Tramschienen in beide Richtungen,
Radwegen und jeder Menge Ampeln. Die Ludwigstraße zieht sich parallel dazu
direkt durch das Wohnquartier, etwas enger, aber ohne Tram, ohne Ampeln.
Wenn es Stau auf der Eisenbahnstraße gab, kürzten einige
Autofahrer:innen über die Ludwigstraße ab. Das verhindert jetzt der
Superblock: Vor einem Jahr, zur gleichen Zeit wie die Sitzbänke, hat die
Stadt die zehn weiß-roten Poller installiert. Sie verlaufen auf der
Kreuzung am Ende der Hildegardstraße einmal diagonal über die Ludwigstraße.
Das stoppt die Autos – aber Fahrräder und Fußgänger:innen kommen weiter
durch.
Am anderen Ende des Superblocks röhrt am Freitag die Tram auf der
Eisenbahnstraße vorbei. Von dort biegen immer wieder Autos in die
Hildegardstraße, fahren an den Superblock-Bänken vorbei, bleiben vor den
Pollern stehen. Sie könnten jetzt noch nach rechts abbiegen. Aber sie
wenden und rollen den Weg zurück, den sie gekommen sind. Die meisten sind
dabei deutlich schneller als die sieben Stundenkilometer, die in der
Spielstraße erlaubt sind.
Auf dem Gehweg läuft derweil eine weitere Frau entlang und beäugt die
bunten Bänke auf der Straße. Sie arbeite in der Nähe und kritisiert: Bei
der Entscheidung über das Pilotprojekt seien Anwohner:innen und
Gewerbetreibende nicht einbezogen worden. Ihren Namen wolle sie nicht
sagen. Die Stimmung sei zu aufgeheizt.
## Immobilien, Kunst und Stadtentwicklung
Etwa 500 Meter weiter steht Ariane Jedlitschka draußen unter hohen Bäumen,
gegenüber einer Schule. Ab und an bahnen sich Sonnenstrahlen den Weg durch
die dünne Wolkendecke. Jedlitschka trägt ein Stirnband, trotz der
Temperaturen, einen türkisfarbenen Baumwollmantel und einen Rucksack,
dunkelorange und funktionell. An einem ihrer Ohrläppchen hängt ein
knallgelber, mondsichelförmiger Ohrring. „Eigentlich ist das Viertel
ruhig“, sagt die 45-Jährige. „Aber der Pendlerverkehr morgens und abends
ist enorm.“
2015 ist sie mit Mann und drei Kindern in die Hildegardstraße gezogen –
also dorthin, wo es jetzt verkehrsberuhigt ist. Sie hat
Immobilienwirtschaft studiert. Heute organisiert sie Kunstprojekte und ist
in mehreren Vereinen für kulturelle Bildung aktiv. Seit sie in dem Quartier
wohnt, engagiere sie sich für die Entwicklung des Stadtteils und die
Einbindung der Anwohner:innen, sagt sie.
2021 haben sie und ihr Mann den Verein „Superblocks Leipzig“ mitgegründet.
Inzwischen hat der Verein zehn feste Mitglieder. Von Oktober 2021 bis April
2024 förderte eine Initiative des Bundesbauministeriums den „Superblocks
Leipzig“ und das Pilotprojekt.
„Die ganze Kreuzung war mit Autos vollgeparkt“, erzählt Jedlitschka. „Die
Straßen sind nicht so breit, aber man konnte sie trotzdem nicht sicher
überqueren.“ Vor allem Kinder hätten Mühe, zwischen den großen parkenden
Wagen den Verkehr zu überblicken.
## Lieferverkehr frei
Warum ein Verein für Superblocks – und nicht etwa für Zebrastreifen,
Bodenwellen oder Einbahnstraßen? Nach der Coronapandemie sei das Konzept
der Superblocks in aller Munde gewesen. Man könne es vergleichsweise
einfach umsetzen „und von da aus weiterdenken“, sagt Jedlitschka und deutet
mit den Armen eine Bewegung nach vorne an.
Weiterdenken, das heißt für die Künstlerin, dass der Superblock mehr sein
kann als Verkehrsplanung. Sie wolle das Viertel mitgestalten. Auf der
Straße sollen Menschen zusammenkommen, da soll ein Kulturraum, ein gutes
Leben entstehen, da soll die Gesellschaft krisenfest werden.
Und weiterdenken, das bedeutet auch: Der Superblock hier in Leipzig wird
tatsächlich ausgeweitet. So hat es der Stadtrat am Vorabend überraschend
eindeutig beschlossen, mit Stimmen von Grünen, Linken, SPD und Freibeutern.
„Hier sollen Poller stehen“, sagt Jedlitschka, auf Zehenspitzen, und zeigt
auf eine Straßenecke. „Und hier“, direkt neben der Liefereinfahrt der
Schule. Lieferfahrzeuge hätten so immer noch freie Fahrt. In den Händen
hält sie einen Plan des Viertels, der zeigt, wie es in ein paar Jahren
aussehen soll.
Zuerst sollen die Durchgangssperren vor der Schule aufgestellt werden,
später dann an voraussichtlich sieben weiteren Kreuzungen. Der nächste
Schritt ist eine Fahrradstraße, parallel zur Eisenbahnstraße auf der
Ludwigstraße. Danach könnten noch mehr Spielstraßen kommen, genau wie in
der Hildegardstraße mit bunten, runden Sitzbänken und Hochbeeten.
## Sind alle gefragt worden?
Und: Vor allem für Lieferfahrzeuge und Pflegedienste sollen
Kurzzeitparkplätze und Ladezonen entstehen. Im Verkehrskonzept, über das
der Stadtrat entschieden hat, ist die Rede von 280 bis 320 Stellplätzen,
die innerhalb der nächsten Jahre „umgewidmet“ werden könnten. Sicher ist
bisher nur: Mit den Pollern vor der Schule fallen erst mal neun Parkplätze
weg. Neue Carsharing-Parkplätze sollen Abhilfe schaffen. Bis Ende 2024 will
die Stadt die Anwohner:innen weiter beteiligen und so schrittweise
ausloten, wie das Konzept tatsächlich Realität werden kann.
Bisher steht die Beteiligung stark in der Kritik. „Die Menschen und
Unternehmen, die dort leben oder arbeiten, die wurden zum Teil entweder
ganz spät oder überhaupt nicht involviert“, sagt Falk Dossin, CDU-Stadtrat.
Der Verein hatte zwar etwa kleine Kundgebungen in der Hildegardstraße
angemeldet, mit denen er die Anwohner:innen über das Projekt
informieren wollte. Das wisse Dossin. Doch die hätten sich größtenteils an
die eigene Blase gerichtet, bemängelt er, die meisten Anwohner:innen
habe das nicht erreicht.
Der langfristige Superblock soll nördlich der Eisenbahnstraße entstehen,
die sich durch die Stadtteile Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf
zieht. In den vergangenen 20 Jahren hat sich deren Einwohner:innenzahl
verdoppelt, mittlerweile wohnen mehr als 28.000 Menschen dort. Trotzdem
gibt es noch viel Leerstand. Die Mieten sind günstig, das
Durchschnittsalter ist am niedrigsten und der Migrationsanteil mit am
höchsten im Leipziger Vergleich.
Das führt auch zu einer Stigmatisierung der Gegend. In hochgejazzten
Reportagen berichteten ARD, Pro7 und Focus-TV über Kriminalität: Drogen,
Schlägereien, Schießereien. Im Alltag prägen die Viertel aber eher belebte
Gassen, verschiedene Geschäfte, Restaurants, Cafés, Bars, Spätis.
Und das Gebiet, das künftig Superblock werden soll, ist eben vor allem eine
Wohngegend. Dossin berichtet, er habe von Anwohner:innen gehört, der
Superblock bringe Krach und Müll. Bei ihm habe es Beschwerden über
Ruhestörungen gegeben und er habe Fotos gesehen „von Bierflaschen, die
rumlagen und auch Spritzen“.
Dossin sagt, er finde politisches Engagement grundsätzlich gut. Aber die
Stadt habe das Pilotprojekt zu schnell ausgeweitet und sei dabei
intransparent gewesen. „Wie viele Parkplätze bis zum fünften Schritt genau
entfallen, steht nirgendwo. Das wurde immer nur weggeschwiegen“, klagt er.
Die Verkehrsberuhigung sei zwar da, aber auf Kosten der Anwohner:innen, die
ihre Autos bräuchten, um zur Arbeit zu pendeln oder den Einkauf für die
Familie zu erledigen.
Gewerbetreibende in der Gegend haben auch die IHK und die Handwerkskammer
zu Leipzig gegen den Superblock mobilisiert. Auf Nachfrage der taz
versichert die IHK, eine Transformation des Verkehrs sei notwendig, „sollen
die ambitionierten Klimaziele erreicht werden“. Das heiße allerdings auch,
„weiterhin einen reibungslosen Wirtschaftsverkehr“ zu gewährleisten.
Der Stadtrat hat Kritik in den Beschluss des Superblocks aufgenommen. Doch
es gibt Anwohner:innen, die sich trotzdem vollkommen übergangen fühlen.
Denn: Der Superblock kommt, das steht fest.
## Zweifel an der Demokratie
Ein Gewerbetreibender, mit dem die taz sprechen wollte, klingt erschöpft.
Es sei zu spät, er wolle sich nicht mehr äußern. Eine Anwohnerin sprach
zwar mehrere Stunden mit der taz. Doch sie will nicht, dass daraus zitiert
wird: Die taz verstehe sie nicht und setze die Kritik nicht genug in den
Fokus.
Das Gefühl, nicht mitbestimmen zu können, ist in Sachsen verbreitet. Laut
dem Else Frenkel Brunswik Institut der Uni Leipzig halten es [1][65 Prozent
der Menschen in Sachsen für sinnlos], sich politisch zu engagieren. Eine
wachsende Mehrheit ist laut dem [2][Sachsen Monitor 2023] unzufrieden
damit, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert.
Studien zeigen zudem: Mit Einkommen und dem Bildungsabschluss [3][steigt
die Demokratiezufriedenheit]. Das könnte etwa daran liegen: Wer die
Strukturen besser kennt und nicht tagtäglich seinen Lebensunterhalt
verdienen muss, kann sich einfacher beteiligen.
In Leipzig behaupten Befürworter:innen und Gegner:innen des
Superblocks jeweils, die Mehrheit in den betroffenen Stadtteilen auf ihrer
Seite zu haben. Es gibt zwar mehrere Petitionen, aber keine valide
Befragung. Sie werfen sich außerdem gegenseitig vor, mit Unwahrheiten zu
argumentieren. Auch, dass vor allem Weiße den Verein prägen, spielt in der
Kritik immer wieder eine Rolle.
## Nicht alle kriegen, was sie wollen
Dossin sagt, „beide Welten sind so fern voneinander und haben sich
mittlerweile so angefeindet, dass es auch schwer ist, irgendwie einen
Kompromiss zu finden“.
Doch auch die CDU nutzt nun den Superblock im Wahlkampf um den Stadtrat. Am
9. Juni geben die Leipziger:innen dafür ihre Stimmen ab. Auf
CDU-Plakaten steht: „Wir stoppen den Superblock!“ Dabei weist der Verein
darauf hin, er habe alle Parteien, auch die Konservativen, vor zwei Jahren
zu Beginn des Projekts um Mitwirkung gebeten.
Bisher zeigte vor allem „Superblocks Leipzig“ Gesicht für das Projekt. „…
wurde eingefordert, dass wir uns als Stadt deutlich stärker positionieren“,
sagt Thomas Dienberg, Leipziger Bürgermeister für Stadtentwicklung und Bau.
„Zu Recht.“
Die Beteiligung aber werde zu Unrecht kritisiert, meint er. Der Verein
Superblocks Leipzig habe immer wieder Veranstaltungen organisiert, um die
Leute vor Ort einzubinden – auch direkt auf der Straße. Flyer, mit denen
Infos über das Projekt verbreitet werden sollten, habe die Stadt in
mehreren Sprachen verteilt.
Die Gegner:innen hätten beklagt, dass der Superblock auf undemokratische
Weise entstanden sei. „Aber Beteiligungen sind ein Aushandlungsprozess“,
sagt der Grüne Dienberg. „Das kann am Ende bedeuten, dass nicht alle
Belange komplett zu 100 Prozent, sondern eben nur zum Teil in die Planung
eingehen.“
## Scheindiskussion?
Die Diskussion um Parkplätze nennt der studierte Raumplaner eine
„Scheindiskussion“: In dem Gebiet seien pro 1.000 Haushalten nur 160 Autos
gemeldet. Aktuell gebe es 1.800 Parkplätze. Auch Dienberg betont, dass es
beim Superblock um mehrere Dinge geht: darum, die Lebensqualität im
Wohngebiet zu erhöhen, den Verkehr sicherer zu machen und das Klima zu
schützen.
Bei den Veranstaltungen, die der Verein „Superblocks Leipzig“ in der
Nachbarschaft organisiert hat, spielte der Klimaschutz keine große Rolle.
Die CO2-Emissionen im Verkehrssektor sind aber besonders hoch. Das habe man
im Hinterkopf, sagt ein Vereinskollege von Ariane Jedlitschka. Klima sei
aber „noch so ein Reizthema“, der Konflikt sei sowieso schon so scharf.
„Superblocks Leipzig“ hat sich dazu verpflichtet, den Verkehrsversuch in
der Hildegardstraße auszuwerten. Das Helmholtz Zentrum für Umweltforschung
hat an verschiedenen Tagen Messungen gemacht und geprüft, wie sich die
Durchgangssperre auf Luftschadstoffe, Lärm und Hitze auswirkt.
Die Messdaten sind noch nicht öffentlich, die Forscher:innen verweisen
auf das Vorbild Barcelona. Laut einem Papier des Umweltbundesamtes aus dem
Jahr 2021 ist die Stickstoffdioxidlast in der Luft im Bezirk Eixample um 33
Prozent gesunken. Im Bezirk Gracia gab es durchschnittlich 5 Dezibel
weniger Lärm, in Poblenou „so gut wie keine Verkehrsunfälle mehr“.
## Mit der Zeit überzeugt?
Gleichzeitig stieg im Superblock in Poblenou die Anzahl der Einzelhandels-
und Gastronomiebetriebe innerhalb von zwei Jahren um 30 Prozent. Bis 2030
will Barcelonas Stadtrat privaten Auto- und Mopedverkehr um 21 Prozent
reduzieren und die CO2-Emissionen pro Kopf verglichen mit 2005 um 40
Prozent drücken – unter anderem mit weiteren Superilles.
Durch die verkehrsberuhigte Zone in Leipzigs Osten schiebt sich ein
dunkelblauer Mercedes-Sprinter. Er parkt mühelos zwischen zwei
Pflanzenkübeln ein. Die bunten Bänke auf der anderen Straßenseite sind
besetzt. Hans Hagedorn von Changing Cities erklärt: Auch in anderen
Städten, in denen Kiez- oder Superblöcke entstanden sind, gebe es Protest
von Anwohner:innen.
Oder von konservativen Politiker:innen, sagt er, die Hände verschränkt auf
den Knien. Für die Städte könne es sich lohnen, diese Konflikte
durchzustehen. Oft überzeuge der Superblock die Kritiker:innen vor Ort
nach einer Weile dann doch.
Hagedorn steht auf, um sich weiter mit den Leipziger Aktivist:innen
auszutauschen. Dann fällt ihm noch ein: „Superblöcke werden zwar im Kleinen
umgesetzt.“ Bürger:innen könnten in ihren Wohngebieten aber merken, dass
sie mit weniger Autoverkehr gut klar kommen. „Dann sind sie auch
aufgeschlossener für große Hebel in der Verkehrswende, zum Beispiel für ein
Tempolimit.“
9 May 2024
## LINKS
[1] https://efbi.de/details/efbi-policy-paper-2023-2-autoritaere-dynamiken-und-…
[2] https://www.staatsregierung.sachsen.de/sachsen-monitor-2023-8897.html?_cp=%…
[3] https://www.fes.de/studie-vertrauen-in-demokratie
## AUTOREN
Nanja Boenisch
David Muschenich
## TAGS
Verkehrspolitik
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Stadtplanung
GNS
Selbstfahrendes Auto
SUV
Bremerhaven
wochentaz
Schwerpunkt Landtagswahl Sachsen 2024
Schwerpunkt Klimawandel
Kiezblock
Barcelona
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