| # taz.de -- Umwelt- und Klimapolitik: Minister für Überforderung | |
| > Carsten Schneider ist der neue Bundesumwelt- und Klimaminister. Für viele | |
| > Klimaschutz-Maßnahmen sind allerdings andere im Kabinett zuständig. | |
| Bild: Klimaexpert*innen kennen ihn nicht: Carsten Schneider | |
| Berlin taz | Es passiert nicht oft, dass von der Bundesregierung bestellte | |
| Wissenschaftler*innen so deutliche Worte finden: Im Koalitionsvertrag, | |
| schreibt der Expertenrat Klima über das deutsche Klimaziel, finde sich | |
| „kein konkreter Hinweis“, wie Deutschland sein Klimaziel 2040 erreichen | |
| soll. In anderen Worten: Die CO2-Emissionen werden 2040 viel höher sein | |
| als gesetzlich erlaubt. Und Union und SPD haben keinen Plan, wie sich das | |
| ändern lässt. | |
| 2024 war [1][das heißeste jemals gemessene Jahr in Deutschland]. Das | |
| Frühjahr 2025 war so trocken wie nie seit Messbeginn, in weiten Teilen des | |
| Landes herrscht Dürre. Will Deutschland seinen Anteil zur Begrenzung der | |
| Erderhitzung leisten, muss in den nächsten vier Jahren einiges passieren: | |
| Der Ausbau der erneuerbaren Energien muss noch schneller vorangehen. | |
| Wesentlich mehr Menschen müssen klimafreundlich heizen und ihr | |
| Verbrennerauto abgeben. | |
| Diese Aufgaben verteilen sich auf drei Ministerien: Das | |
| Wirtschaftsministerium, geleitet von Katherina Reiche (CDU), das für | |
| Energiepolitik verantwortlich ist, das Bauministerium von Verena Hubertz | |
| (SPD) und das Verkehrsministerium von Patrick Schnieder (CDU). Wenn die | |
| Probleme beim Klimaschutz gelöst werden, dann von diesen dreien. | |
| Und wenn nicht, dann ist es Carsten Schneiders Schuld. | |
| Schneider ist der neue Umweltminister und damit auch verantwortlich für | |
| Klimaschutz. Er ist 49 und in Erfurt geboren, sitzt seit 1998 für die SPD | |
| im Bundestag. Schneider gilt als hervorragend vernetzt im politischen | |
| Berlin und hat viel parlamentarische Erfahrung. Unter Olaf Scholz war | |
| Schneider Beauftragter für die neuen Bundesländer, warb dort für Vorhaben | |
| der Regierung und in Berlin für Industrieansiedlungen im Osten. Er kennt | |
| die Landschaften dort, die von Dürre und Waldbränden gezeichnet sind. In | |
| seiner Regierungserklärung kündigte er an, Klima und Umwelt „wieder ins | |
| Zentrum des gesellschaftlichen Interesses rücken“ zu wollen und das | |
| „Gemeinschaftsprojekt Umwelt- und Klimaschutz sozial gerecht zu | |
| organisieren“. Aber fragt man Klima- und Umweltschützer*innen, was sie von | |
| Schneider halten, sagen die meisten: keine Ahnung. | |
| ## Befördert durch die SPD-Ostverbände | |
| „Carsten Schneider ist für uns bisher nicht wirklich in Erscheinung | |
| getreten“, sagt Georg Kössler, Leiter Politik bei Greenpeace. „Er ist | |
| bislang nicht groß aufgetaucht“, sagt Carla Reemtsma, Sprecherin [2][von | |
| Fridays for Future]. Auch Niklas Illenseer, Klima- und Haushaltsexperte der | |
| Denkfabrik Dezernat Zukunft, ist überrascht von Schneiders Berufung: „Er | |
| ist Finanzexperte, aber das Umweltministerium ist gar nicht besonders | |
| finanzstark.“ | |
| Dass Schneider Umweltminister geworden ist, [3][hat er nicht seiner | |
| Fachkenntnis zu verdanken.] Vielmehr demonstriert seine Berufung den | |
| Einfluss des konservativen Seeheimer Kreises und der Ost-Landesverbände der | |
| SPD, die Schneider unbedingt im Kabinett sehen wollten und sich durchsetzen | |
| konnten. Deren Macht hat Schneider in ein Ministeramt befördert, das selbst | |
| mächtiger geworden ist: In der Ampelregierung hat Wirtschaftsminister | |
| Robert Habeck die Klimapolitik gesteuert, die internationale | |
| Klimadiplomatie wurde vom Auswärtigen Amt betrieben. Beides wandert nun | |
| wieder zurück ins Umweltministerium. | |
| Mit der Klimapolitik wurde das Umweltministerium aufgewertet. Aber, sagt | |
| Klimaexperte Illenseer: „Es geht gar nicht so sehr darum, welche Aufgaben | |
| dem Ministerium übertragen werden, sondern welche nicht.“ | |
| Denn die 100 Milliarden für Klimaschutz, die Teil des Sondervermögens sind, | |
| werden zu großen Teilen vom Wirtschaftsministerium ausgegeben. Wo das | |
| Umweltministerium wirklich an Macht gewinnen kann, glaubt Illenseer, ist | |
| beim ETS, dem europäischen Emissionshandel. Auch hier ist noch nicht | |
| endgültig geklärt, ob Wirtschafts- oder Umweltministerium verantwortlich | |
| sein werden. „Schneider wäre gut beraten, das bei sich im Haus zu | |
| behalten“, sagt Illenseer. | |
| ## Kaum Einfluss auf die klimapolitischen Entscheidungen | |
| Denn ob die EU ernsthaften Klimaschutz betreiben wird, entscheidet sich in | |
| den nächsten Jahren genau daran. 2027 soll der CO2-Preis im Gebäude- und | |
| Verkehrssektor – also vor allem fürs Heizen und Verbrennerfahren – nicht | |
| mehr von der Bundesregierung festgelegt werden. Stattdessen bildet er sich | |
| an einem europäischen Markt, dem ETS2, benannt in Abgrenzung zum ETS1, dem | |
| CO2-Markt für Strom und Industrie. | |
| Im ETS2 gibt es eine feste Zahl von CO2-Zertifikaten, die den Ausstoß einer | |
| Tonne CO2 erlauben. Stoßen Gebäude und Verkehr auf europäischer Ebene viel | |
| CO2 aus, wird es teuer. Stoßen sie wenig CO2 aus, wird es billiger. | |
| Kürzlich gab es erste Signale von Investor*innen, dass sie einen | |
| Anfangspreis von etwa 70 Euro pro Tonne erwarten – das würde Benzin in | |
| Deutschland mehr als 10 Cent pro Liter teurer machen und eine | |
| Kilowattstunde Gas ebenfalls um mehrere Cent verteuern. 2030 könnte der | |
| CO2-Preis sogar zwischen 100 und 300 Euro pro Tonne liegen. | |
| „In Europa schmieden sich schon jetzt Allianzen gegen den Emissionshandel | |
| für Gebäude und Verkehr“, sagt Niklas Illenseer. In vielen EU-Ländern | |
| werden die Preissprünge höher als in Deutschland, weil CO2 dort noch nichts | |
| kostet. Polen und die Slowakei haben Widerstand angekündigt, wollen den | |
| Start des ETS2 zumindest verschieben. „Das wäre ein massiv negatives | |
| Signal“, sagt Illenseer, „weil es den Preisdruck langfristig erhöhen und | |
| für Verunsicherung sorgen würde.“ Wenn nicht Schneider, sondern | |
| Wirtschaftsministerin Reiche die Verhandlungen für Deutschland führt, kann | |
| der Klimaminister auf die zentralen klimapolitischen Entscheidungen kaum | |
| einwirken. | |
| Wie hoch der CO2-Preis fürs Heizen und Verbrennerfahren sein wird, hängt | |
| aber wieder von seinen Kolleg*innen ab: Wenn Hubertz und Schnieder in | |
| ihren Sektoren die Emissionen rasch senken können – durch ein Tempolimit | |
| und stark verbilligte Wärmepumpen zum Beispiel –, sinkt auch der EU-weit | |
| gebildete Preis, weil Deutschland ein Viertel der Emissionen im Gebäude- | |
| und Verkehrssektor ausstößt. Tun sie es wie ihre Vorgänger*innen nicht, | |
| können Klimaschutzgegner*innen zu Recht vor sozialen Verwerfungen in | |
| ganz Europa warnen. | |
| Schneider kann nicht mehr tun, als seine Kolleg*innen an ihre Aufgaben | |
| zu erinnern. Aber vielleicht liegt ihm genau das. | |
| ## Er muss riesige Fortschritte machen | |
| „Ich bin hoffnungsvoll, dass Carsten sich schnell einarbeitet“, sagt Dagmar | |
| Becker. Sie ist Vorstandsmitglied beim Bund für Umwelt und Naturschutz BUND | |
| in Thüringen und war lange Jahre Landtagsabgeordnete für die SPD. Mit | |
| Schneider hat sie zusammengearbeitet, seitdem er 1998 in den Bundestag | |
| einzog. Er sei „ein Zuhörer“, wolle die Leute mitnehmen, sagt Becker. Und | |
| vor allem: „Es ist ein großer Vorteil, dass er so gut vernetzt ist.“ | |
| Schneider ist für sein Netzwerk und seinen Pragmatismus bekannt. Er war | |
| einer derjenigen, die früh ein vorzeitiges Aus der Ampelregierung erwartet | |
| haben. Mit Reiche, ebenfalls Ostdeutsche und Pragmatikerin, dürfte er gut | |
| auskommen. Und für die Fachkenntnis hat er einen erfahrenen Staatssekretär, | |
| Jochen Flasbarth (SPD). Der war von 2013 bis 2021 schon einmal | |
| Staatssekretär im Umweltministerium und genießt hohes Ansehen unter Klima- | |
| und Umweltschützer*innen. | |
| Flasbarth bringt auch Erfahrung in internationalen Klimaverhandlungen mit, | |
| allen voran die jährliche UN-Klimakonferenz, die in diesem Jahr im | |
| brasilianischen Belém stattfindet. Nach dem angekündigten Ausstieg der USA | |
| aus dem Pariser Klimaabkommen muss sich die weltweite Klimadiplomatie dort | |
| neu sortieren. Und über allem schwebt die weitgehend gescheiterte | |
| Klimakonferenz des vergangenen Jahres, die sich statt auf Geldzusagen nur | |
| auf die Entwicklung eines Finanzfahrplans einigen konnte. | |
| Der Haushaltspolitiker Schneider muss nun auf internationalem Parkett | |
| Milliarden für Klimaschutz im Globalen Süden besorgen und in Brüssel den | |
| Emissionshandel verteidigen. Er muss im Kabinett warnen, anspornen, | |
| Klimaschädliches verhindern und Klimafreundliches vorantreiben. Die Fluten, | |
| Stürme, Hitzewellen und Dürren, die durch die Erderhitzung immer | |
| wahrscheinlicher und heftiger werden? Schneiders Job, Klimaanpassung, macht | |
| sein Ministerium auch. Dazu noch dessen ursprüngliche Kernaufgabe | |
| Umweltschutz: Das Artensterben, [4][im Koalitionsvertrag keines Satzes | |
| gewürdigt], geht immer weiter. Und die Wälder, Moore und Wiesen, die | |
| Deutschlands Klimaziel zufolge Millionen Tonnen Treibhausgase binden | |
| sollen, emittieren aktuell mehr CO2, als sie aus der Atmosphäre ziehen. | |
| Auch hier muss Schneider riesige Fortschritte machen. | |
| Ist man Carsten Schneider wohlgesinnt, könnte man sagen: Ein Glück, dass da | |
| jemand mit so viel politischer Erfahrung sitzt, wenn auch die Expertise | |
| fehlt. Aber Schneiders Haus ist klein, Klimaschutz scheint Friedrich Merz | |
| nicht zu interessieren, die großen Summen werden woanders ausgegeben. | |
| Schafft Schneider es nicht, sein Netzwerk in Macht am Kabinettstisch zu | |
| verwandeln, wird er Bundesminister für Überforderung sein. In der heißesten | |
| Legislaturperiode aller Zeiten. | |
| 18 May 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jonas Waack | |
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