| # taz.de -- Umbruch der arabischen Welt: Der Dschinn ist aus der Flasche | |
| > Von Algerien über Ägypten bis zum Sudan: Die arabische Welt ist im | |
| > Umbruch. Der Protest richtet sich vor allem gegen Korruption und | |
| > Misswirtschaft. | |
| Bild: Beirut am 18. Oktober: Demonstranten protestieren gegen die libanesische … | |
| Die arabische Welt ist wie ein gigantischer Dampfkochtopf. Meist liegt der | |
| Deckel der Repression darüber, aber immer öfter kocht er über. [1][Sei es | |
| wie jetzt im Libanon], in dem Hunderttausende seit vergangener Woche gegen | |
| das überkommene und korrupte politische konfessionelle System auf die | |
| Straße gehen. Sei es im Irak, wo vor wenigen Wochen eine Protestwelle | |
| blutig niedergeschlagen worden ist, aber bereits neue Demonstrationen | |
| angekündigt wurden. | |
| Wir haben erlebt, wie sich der Deckel dieses Jahr in Algerien nach dem | |
| Sturz des Diktator Abdelaziz Bouteflika gehoben hat, wo es seitdem | |
| wöchentlich zu Demonstrationen kommt, die eine Ende des gesamten „Systems | |
| Bouteflika“ fordern. Oder im Sudan, wo der Langzeitdiktator Omar al-Bashir | |
| gestürzt wurde und die Protestbewegung es geschafft hat, mit den bisher | |
| allein herrschenden Militärs ein Machtteilungsabkommen zu schließen. | |
| Selbst in Ägypten, mit seinem allmächtigen Repressionsapparat, wagten es | |
| Menschen vor wenigen Wochen erstmals wieder, gegen den ehemaligen | |
| Militärchef und Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi auf die Straße zu gehen. | |
| Das alles zeigt vor allem eines: Die Politik in der arabischen Welt lässt | |
| sich nicht in Jahreszeiten beschreiben à la „der Arabische Frühling ist zum | |
| Arabischen Winter geworden“. Was wir in unsrer unmittelbaren Nachbarschaft | |
| im südlichen und östlichen Mittelmeer und im Nahen Osten erleben, ist ein | |
| langfristiger Prozess des Umbruchs. | |
| Selbst die Anfänge dieser Aufstandsbewegung lassen sich als Prozess | |
| beschreiben. Die Wirklichkeit ist wesentlich komplizierter als die | |
| Geschichte vom Gemüsehändler [2][Mohamed Bouazizi], der sich in Tunesien | |
| selbst angezündet und mit diesem Schmetterlingsschlag in Tunesien einen | |
| Orkan in der gesamtem arabischen Welt ausgelöst hat. | |
| Nehmen wir Ägypten. Was war der Beginn des Aufstands gegen Mubarak? War es | |
| der 25. Januar 2011, als die Menschen auf dem Tahrir-Platz | |
| zusammenströmten? Oder die Neujahrsnacht zuvor, als muslimische und | |
| koptische Jugendliche gemeinsam nach einem Anschlag auf eine Kirche in | |
| Alexandria gegen die Unfähigkeit des Regimes auf die Straße gingen, Kirchen | |
| zu schützen. Oder war es, als der Jugendliche Khaled Said im Jahr zuvor von | |
| Polizisten in Alexandria zu Tode geprügelt worden war und die | |
| Facebook-Kampagne „Wir sind alle Khaled Said“ sich wie ein Lauffeuer in | |
| Ägypten verbreitete. | |
| ## Überkommene Systeme | |
| Und so, wie diese Bewegung für eine politische Veränderung keinen | |
| wirklichen Ursprungsort hat, hat sie auch keinen Endpunkt. Die alten | |
| Systeme versuchen zwar immer wieder [3][durch Repression den Deckel | |
| draufzusetzen], aber sie schaffen es nicht, den Widerspruch vollkommen | |
| auszuschalten. Der entzündet sich im Moment an wirtschaftlichen und | |
| sozialen Problemen. Denn eines haben alle überkommenen arabischen | |
| autokratischen oder konfessionellen politischen Systeme gemeinsam: Sie | |
| öffnen die Tür für Korruption und die Selbstbereicherung der jeweils | |
| regierenden Eliten, während das Gros des Landes wirtschaftlich und sozial | |
| mit dem Rücken zur Wand steht. | |
| In Ägypten muss eine Drittel der Bevölkerung mit 1,50 Euro am Tag | |
| auskommen. Im Libanon lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der | |
| Armutsgrenze. Dazu kommt die grassierende Korruption. Der Sudan ist auf dem | |
| Korruptionsindex von Transparency International als das sechstkorrupteste | |
| Land der Welt gelistet, sieben Ränge vor dem Irak, nicht weit gefolgt vom | |
| Libanon. | |
| Der andere, immer wiederkehrende Punkt des Unmuts sind nicht | |
| funktionierende staatliche Dienstleistungen, sei es die immer wieder | |
| unterbrochene Stromversorgung in der irakischen Sommerhitze oder der nicht | |
| abgeholte Müll im Libanon oder eine digitale Infrastruktur im nach außen | |
| glitzernden Beirut, die einem Drittweltland gleicht. | |
| ## Hohe Jugendarbeitslosigkeit | |
| Die Jugendarbeitslosigkeit liegt im Irak bei 20 Prozent. Das ist besonders | |
| dramatisch, weil 60 Prozent der Bevölkerung unter 24 Jahre alt sind. | |
| Ähnliche Zahlen gelten für die anderen arabischen Länder, in denen vor | |
| allem junge Menschen auf die Straße gehen, die für sich keine | |
| Perspektiven sehen. Das Merkmal dieser Protestbewegung ist dabei, spontan | |
| zu agieren und, vielleicht mit Ausnahme des Sudan, nicht organisiert zu | |
| sein. Sie lehnen es ab, von den traditionellen Parteien vereinnahmt zu | |
| werden. | |
| Interessant ist dabei, dass sich der Protest nicht nur gegen die arabischen | |
| Autokraten regt, sondern wie im Falle des Libanon und des Irak gegen | |
| Systeme, in denen konfessionelle Gruppierungen und Parteien die politische | |
| Szene beherrschen. Jahrzehntelang wurde den Menschen dort gesagt, dass ihre | |
| religiöse Identität der entscheidende Faktor der Politik ist, seien es | |
| Sunniten, Schiiten oder Christen. Doch jetzt sehen die Menschen, dass genau | |
| diese religionsbasierten Parteien sich selbst bereichern und eine | |
| Amigo-Wirtschaft installiert haben, in der sie die Ministerien zu ihren | |
| Selbstbedingungsläden gemacht haben. | |
| Jetzt demonstrieren die Menschen dort gemeinsam für einen funktionierenden | |
| Staat, für politische Rechenschaft und gegen ihre eigenen konfessionellen | |
| Führungen. Wirtschaftliche und soziale Bedürfnisse triumphieren im Diskurs | |
| über religiöse Identitäten. | |
| Es sind nicht mehr die Regime, die konfessionellen Parteien und deren | |
| Sicherheitsapparate, die bestimmen, was die Menschen denken und auch | |
| aussprechen. Vor allem über die sozialen Medien hat sich die kritische | |
| politische Debatte längst verselbstständigt und wandert dann sofort vom | |
| Internet ins Kaffeehaus. Und wenn der Dschinn einmal aus der Flasche ist, | |
| schafft es kein Autokrat, kein Militär und keine konfessionelle Partei, ihn | |
| wieder dorthin zurückzuholen. Dann nimmt der Prozess des Umbruchs seinen | |
| Lauf und hält sich dabei an keine Jahreszeiten. | |
| 29 Oct 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Karim El-Gawhary | |
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